Das Geheimnis der Schwestern
da. Nur das Klatschen der Wellen am Ufer erinnerte daran, dass es lebendig war.
»Haben Sie je Reisen unternommen?«
»Nein, keine richtigen.«
»Warum nicht?«
Winona zuckte mit den Schultern. »Als meine Mom starb, war ich fünfzehn und musste schnell erwachsen werden. Nach dem Jurastudium kam ich hierher zurück, weil meine Schwestern und mein Dad mich brauchten.«
»Ihre Schwestern können sich glücklich schätzen, Sie zu haben. Als meine Frau mich verließ, hatte die arme Cissy nur noch mich.«
Zu diesem Thema hatte er mehrfach an diesem Abend Anspielungen fallenlassen, es aber nie direkt angesprochen. Sie wollte ihn nach seiner Exfrau fragen, aber es verlief alles so erfreulich, dass sie fürchtete, es zu verderben.
Die nächsten Stunden saßen sie in ihren Liegestühlen, starrten auf das immer dunkler werdende Panorama und unterhielten sich wie alte Freunde. Winona konnte sich nicht erinnern, je eine so schöne erste Verabredung – zum Essen zumal – gehabt zu haben.
Um elf Uhr sagte er schließlich: »Wir brechen wohl besser auf. Ich möchte Cissy nicht zu lange alleine lassen.«
Also war er auch noch ein guter Vater.
»Natürlich«, sagte Winona und lächelte ihn an.
Nachdem sie Cissy kurz angerufen hatten, tuckerten sie langsam unter dem Sternenhimmel zurück und machten dann am Anleger fest. Auf dem Weg zum Haus hielt er ihre Hand, und ihr erster Kuss war genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte: zärtlich und fest und voller Sehnsucht. Winonas Leidenschaft, die lange geschlummert hatte, erwachte und erinnerte sie mit Macht daran, dass Küsse nicht genug waren.
Plötzlich zog er sich zurück.
»Was ist los? Es liegt an mir, nicht wahr? Du findest mich nicht attraktiv.«
»Es liegt nicht an dir. Sondern an mir.«
Die übliche Plattitüde. Sie hatte mehr von ihm erwartet – ihr Fehler. »Aha.« Sie seufzte und wandte den Kopf ab.
»Win.« Er fasste ihre Hand und zwang sie, ihn anzusehen.
»Wir müssen kein Drama draus machen. Es ist schon gut. Ich hab’s kapiert, glaub mir. Ich dachte nur, wir würden uns gut verstehen.«
»Das ist ja das Problem.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Es ist wegen meiner Frau, die ironischerweise auch noch Sybil hieß. Das hätte ich als Zeichen nehmen sollen. Wie auch immer: Ich liebe sie.« Er verstummte, blickte aufs Wasser und flüsterte: »Liebte sie.«
»Und?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich wünschte, ich wüsste, was passiert ist. Deshalb hab ich auch solchen Schiss. Ich dachte, wir wären glücklich. Ich dachte es, bis ich in mein leeres Haus kam und nur einen Zettel fand, auf dem nicht mehr stand als: Tut mir leid, Mark. Sie hatte sich in ihren Pilates-Lehrer verliebt und war gegangen. Einfach so. Cissy und ich fielen aus allen Wolken.«
»Das war bestimmt furchtbar für euch.«
»Schreib mich noch nicht ab. Darf ich das sagen? Ich weiß, ich habe kein Recht, das von dir zu verlangen, aber ich bitte dich trotzdem: Gib mich nicht auf.«
»Glaub mir, Mark. Ich weiß gar nicht, wie man aufgibt.«
»Dann ist es ja gut.«
»Ja, gut.«
»Ich ruf dich an.«
»Du weißt, wo du mich finden kannst«, sagte sie und sah ihm nach, als er ging. Er überquerte die Terrasse und verschwand in der dunklen Hecke, die ihre Grundstücke trennte.
Unwillkürlich fragte sie sich, wie lange sie wohl auf seinen Anruf warten musste.
Gestern Abend hatte ich die beste Zeit meines Lebens. Kaum waren Tante Winona und Mark zu ihrem Date verschwunden, ging ich in den Garten und wartete. Mein Herz klopfte so heftig, dass mir fast schlecht wurde. Ich kann gar nicht beschreiben, was ich fühlte, als ich sie durch die Öffnung in der Hecke kommen sah und wusste, dass sie mit mir zusammen sein wollte.
Ich fragte, ob sie einen Film gucken wollte, aber sie meinte, es wäre ein so schöner Abend, da könnten wir uns doch einfach ins Gras legen und reden. Das machten wir dann auch. Ich holte eine Decke aus Tante Winonas Gästezimmer und breitete sie auf unserem struppigen Rasen aus, während Cissy Cola und Chips aus ihrem Haus holte. Dann legten wir uns nebeneinander auf die Decke und redeten über alles Mögliche.
Es war umwerfend. Sie erzählte, dass ihre Mom eines Tages einfach verschwunden und nie mehr zurückgekommen war, nicht mal anrief und dass ihr Vater deshalb angefangen hätte zu trinken. Als sie das erzählte, fing sie an zu weinen, und ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich wollte das Richtige sagen, aber ich wusste, dass man dazu nichts
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