Das Geheimnis der Totenmagd
erschrocken fest, dass es sich um eine zierliche, beringte Hand handelte. Mit aller Kraft zog er weiter an dem Stoff, während rings um ihn die Gebeine herunterkullerten, bis er des Bündels endlich habhaft wurde. Es war die Leiche einer mageren Frau, gehüllt in einen schwarzen Trauermantel. Obgleich ihn der Anblick von Toten schon lange nicht mehr schrecken konnte, brach ihm unversehens der kalte Schweiß aus und rann ihm über Gesicht und Nacken. Angesichts der wächsernen Blässe der Toten mit den weit aus den Augenhöhlen getretenen Augäpfeln, in denen sich auch im Tod noch die ärgste Seelenpein spiegelte, drehte sich ihm förmlich der Magen um. Grauenhaftes musste ihr widerfahren sein. Hinter Heinrich Sahls schmerzhaft pochenden Schläfen flackerten erneut die Schreckensbilder der vergangenen Nacht, so deutlich, dass er glaubte, den Verstand zu verlieren. »Heilige Muttergottes, steh mir bei«, stammelte er verzweifelt. Er zitterte wie Espenlaub, und für einen Schoppen Branntwein hätte er in diesem Moment Gott weiß was gegeben. Doch mit dem letzten Rest Vernunft, der ihm bei aller Panik verblieben war, wurde ihm klar, dass er umgehend zum Pfarrhaus eilen müsse, um dem Pfarrer Meldung zu erstatten.
Mit schlotternden Knien taumelte er den Friedhofsweg entlang, und je näher er seiner Behausung kam, desto heftiger meldete sich seine Trunksucht. Im Geiste durchsuchte er jeden Winkel seiner Kammer nach einer stillen Reserve, die es, und das war ihm nur allzu bewusst, tatsächlich nicht gab. Hatte er nicht vielleicht noch irgendwo bei den Gräbern eine Flasche vergessen, da es ihm schon seit langem zur lieben Gewohnheit geworden war, auch während der Arbeit hin und wieder einen heimlichen Schluck aus der Pulle zu nehmen? Hektisch irrten seine Blicke über den Gottesacker, all seine Vorsätze, dem Trunke künftig abzuschwören, hatten sich in Luft aufgelöst. Er fühlte sich so hundeelend und sterbenskrank, dass er wie jeder Kranke seine Medizin brauchte!
Da nahm er auf dem Friedhofsweg plötzlich ein Glitzern wahr. Sein Säuferherz ließ ihn hoffnungsfroh innehalten, um es genauer in Augenschein zu nehmen, doch es erwies sich als viel zu klein. Wertloser Tand, eine Glasscherbe womöglich. Missmutig und enttäuscht bückte er sich danach – und erkannte jetzt erst, dass es sich um eine juwelenbesetzte Gemme handelte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Das war genug, um sich eine ganze Wagenladung mit Weinfässern zu kaufen! Verstohlen schaute er sich um und steckte das Schmuckstück kurzerhand unter seine Kutte.
*
»Entschuldigt bitte, dass ich Euch schon so früh behellige, aber ich muss unbedingt den Herrn Pfarrer sprechen«, stieß Sahl atemlos hervor und kam sich unter den ungnädigen Blicken der Pfarrhaushälterin vor wie der letzte Lumpenhund.
Die Frau rümpfte angewidert die Nase, fächelte sich Luft zu und trat demonstrativ einen Schritt zurück. »Ihr stinkt ja zum Gotterbarmen!«, zeterte sie mit schriller Stimme. »Und wie Ihr wieder ausseht! Da kann man ja das Grausen kriegen. So kommt Ihr mir jedenfalls nicht über die Schwelle. Verpestet uns noch die ganze Stube, dieser Trunkenbold! Geht erst mal heim, und wascht Euch. Und wenn Ihr wieder halbwegs nüchtern seid, könnt Ihr von mir aus wiederkommen.«
»Ich habe nichts getrunken«, rechtfertigte sich Heinrich mit bebender Stimme. »Und dass ich so verdreckt bin, liegt daran, dass ich gearbeitet habe. Ich zieh ja nicht mein Feiertagsgewand an, wenn ich im Beinhaus zu tun habe. Jetzt lasst mich bitte zum Herrn Pfarrer. Es ist nämlich etwas Schlimmes passiert.« Aus Sahls geröteten Augen sprach eine solche Bedrängnis, dass selbst die abweisende Wirtschafterin merkte, dass irgendetwas nicht stimmte.
»Was ist denn passiert?«, erkundigte sie sich plötzlich interessiert und bekam vor Sensationsgier ganz glänzende Augen.
»Das werdet Ihr noch früh genug erfahren. Jetzt lasst mich mit dem Herrn Pfarrer reden«, insistierte Heinrich. Er genoss es, die Frau, die augenscheinlich vor Neugierde platzte, ein wenig schmoren zu lassen.
Auch Hochwürden Juch, der mit einem Gast beim Frühstück saß, war äußerst ungehalten über die Störung:
»Was untersteht Sie sich, Agnes, mir am heiligen Feiertag und auch noch in aller Herrgottsfrühe den Totengräber ins Speisezimmer zu führen!«, schimpfte er entrüstet.
»Ei, er hat gesagt, es wär was Schlimmes passiert, Herr Pfarrer«, entschuldigte sich die Haushälterin kleinlaut und deutete einen
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