Das Geheimnis der Totenmagd
ganzes Bücherwissen auch nicht retten könne. Doch die Weisheit dieser wunderbaren alten Schrift, aus der ich Euch eben vorlas und von der leider nur noch diese kümmerliche Abschrift existiert, kann mich retten. Sie kann uns alle retten, alle, die auserwählt sind, Euch zu folgen. Denn fürwahr: Ihr allein kennt den Weg, der in sein dunkles Reich führt. Er hat Euch zu sich gerufen und Euch damit beauftragt, ihn uns zu lehren. Oh Meister, lehre mich den Tod!« Mit diesen Worten warf ich mich vor dem Geißlerführer auf die Knie. Dieser strich mir mit mildem Lächeln über das stoppelige Haupt, auf dem noch die Ränder der Mönchtonsur zu erkennen waren, und befahl mir, mich wieder zu erheben und mir den sündigen Leib zu geißeln, denn der Weg ins Reich des Todes sei ein dorniger. Während ich mich schon schonungslos bis aufs Blut peitschte, flüsterte mir der Meister zu, es sei sein Wunsch, dieses gesamte Werk, welches ihn in höchstem Maße fasziniere, von mir nahegebracht zu bekommen.
11
Am nächsten Morgen hatten es Anna und Katharina eilig, wieder nach Frankfurt zurückzukehren. Bis zur Hinrichtung von Katharinas Vater waren es nur noch drei Tage. In der Nacht hatten sie beide kaum geschlafen; ihre Gespräche hatten sich überwiegend um Kilian von Hattstein gedreht, der ihnen, inzwischen als Lügner und Betrüger entlarvt, zunehmend auch als Mörder verdächtig erschien. Während der Fahrt schmiedeten sie Pläne, was als Nächstes zu tun war.
»Sobald wir in Frankfurt sind, werde ich zum Dominikanerkloster gehen und den Inquisitor um eine Audienz bitten. Ich denke, die wird er mir als Schwester der Ermordeten nicht versagen. Dann werde ich alles daransetzen, ihn von der Unschuld deines Vaters zu überzeugen. Das verspreche ich dir«, erklärte Anna mit großer Ernsthaftigkeit.
»Wenn dir das gelingt, stehe ich für immer in deiner Schuld. Ich werde für dich beten.«
»Das kann bestimmt nicht verkehrt sein. Aber beten allein wird nicht reichen. Es wird bestimmt nicht leicht werden, ihn zu überzeugen.«
Katharina rang die Hände. »Danach kommst du gleich zu mir und berichtest, was du erreicht hast. O Gott, ich werde wie auf heißen Kohlen sitzen.«
»Und wenn wir diese Hürde genommen haben, gehen wir gemeinsam zum Stadtphysikus Leonhard Stefenelli und stellen ihn wegen Kilian von Hattstein zur Rede«, sagte Anna resolut. »Schließlich war er es, der ihn meiner Familie als Krankentröster empfohlen hat.«
»Ja, das sollten wir machen«, erwiderte die Totenmagd mit bangem Gesichtsausdruck, aber sie senkte bei diesen Worten bekümmert den Blick.
Anna sah die Freundin erstaunt an, Katharinas plötzliches Zögern schien ihr befremdlich.
»Doch, doch«, beeilte sich Katharina zu bestätigen und blickte Anna entschlossen an.
»Abgemacht. Sei zuversichtlich. Wir werden das bestimmt schaffen.« Doch auch Anna spürte in diesem Moment, dass sie selbst nicht ganz überzeugt war. Nachdenklich ließ sie ihre Blicke über den verschneiten Taunuswald schweifen, der an ihnen vorüberzog. Sie waren in verschärftem Tempo unterwegs, denn ab dem Limesdurchlass »Zum roten Kreuz« ging es nur noch bergab. Das Wetter hatte sich über Nacht beruhigt, und es hatte aufgehört zu schneien.
Als der Pferdeschlitten einige Stunden später vor der »Roten Mühle« im Taunusörtchen Kelkheim anhielt, wo die Magd Marie zustieg, redeten Anna und Katharina nur noch über Belanglosigkeiten. Die junge Dienerin warf ihnen dennoch immer wieder argwöhnische Blicke zu.
Um die Mittagszeit erreichten sie Frankfurt, wo sich ihre Wege zunächst trennten. Katharina wurde nahe der Galgenpforte vor ihrem Wohnturm abgesetzt, während Anna zum Dominikanerkloster fuhr.
*
Hubertus Ottenschläger verbrachte die freie Zeit bis zu Heinrich Sahls Hinrichtung bei seinen Frankfurter Ordensbrüdern, überwiegend mit der Lektüre frommer Schriften oder in religiöser Versenkung, denn accidia, die Sünde des Müßiggangs, war ihm fremd.
An jenem Freitag war er in das Studium von Protokollen der spanischen Inquisition aus Toledo vertieft, in denen sich ihm eine ganz neue teuflische Art der Folter offenbarte. Die spanischen Patres waren neuerdings dazu übergegangen, Delinquenten tage-, mitunter sogar wochenlang ohne Verhör zu foltern, bis die Angeklagten völlig zusammenbrachen und darum flehten, man möge ihnen doch endlich sagen, was sie gestehen sollten – sie würden alles zugeben. Die Vorgehensweise der Spanier nötigte dem Inquisitor
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