Das Geheimnis der Totenmagd
Treppe sinken.
Schon seit dem Morgen war ihr ganz beklommen zumute bei der Vorstellung, am Nachmittag Doktor Stefenelli aufsuchen zu müssen. Sie hatte sich Anna gegenüber nichts anmerken lassen, aber sie hegte aus unerklärlichen Gründen eine sonderbare Scheu vor ihm und das, obgleich er immer sehr freundlich zu ihr gewesen war. Sie erinnerte sich noch an ihre erste Begegnung vor etwa einem Jahr. Der Doktor war damals noch nicht lange in der Stadt und hatte sie ins Heiliggeistspital bestellen lassen, um zwei Tote zu waschen und in Leinentücher einzunähen. Als sie den Krankensaal betreten und sich bei einer Siechenmagd nach den Verstorbenen erkundigt hatte, war sie ihm unversehens über den Weg gelaufen. Er hatte sich ihr höflich vorgestellt und ein paar nette Worte mit ihr gewechselt, ehe er sich wieder seinen Patienten zuwandte. Doch beim Blick in seine graugrünen Augen war ihr heiß und kalt geworden, und sie fühlte eine seltsame Beklemmung in sich aufsteigen.
Von Zeit zu Zeit erhielt sie von ihm Aufträge zur Totenwäsche. Gelegentlich traf sie ihn auch noch an einem Sterbebett an, und er verhielt sich ihr, der Geringeren, gegenüber stets so liebenswürdig und höflich, wie ihr das noch niemals seitens einer Standesperson widerfahren war.
Ihr war bekannt, dass Doktor Stefenelli in dem Ruf stand, ein begnadeter Heiler zu sein, dem es mit Hilfe seiner Ausstrahlung gelang, die Kranken in seinen Bann zu ziehen. Obwohl der Stadtphysikus bereits auf die dreißig zuging, war er noch immer unverheiratet, und es war ein offenes Geheimnis, dass nicht wenige gutsituierte Bürgerstöchter oder junge Witwen viel darum gegeben hätten, von dem begehrten Junggesellen zur Herzensdame erkoren zu werden. Doch keine schien ihm genehm zu sein.
Allenthalben wurde gemunkelt, dass der stattliche Mann mit dem markanten Gesicht, welches wegen kleinerer Narben auf Stirn und Wangen eher verwegen als schön anmutete, keineswegs ein Kostverächter sei. Von den höheren Töchtern im Weißfrauenstift über die sittsamen Handwerksjungfern in den Spinnstuben bis hin zu den Bade- und Frauenhäusern wurde über den Doktor verschämt getuschelt und gekichert. Man dichtete ihm zahllose Liebesaffären an, was ihn umso begehrenswerter machte, erst recht, da keine der Aspirantinnen mit Fug und Recht von sich behaupten konnte, zu den Auserwählten zu gehören.
Katharina indessen, der die vielfältigen Gerüchte um den Stadtmedicus gleichfalls zu Ohren gekommen waren, konnte die Schwärmerei ihrer Geschlechtsgenossinnen für den weltgewandten jungen Arzt nicht ganz verstehen. Gewiss war er ein interessanter Mann und sah gut aus, aber irgendetwas Wesentliches fehlte ihm. Mehr noch: Aus Gründen, die sie nicht genau benennen konnte, hätte sie sich sogar davor gefürchtet, in seinen Armen zu liegen. Sie schrieb dies in der Hauptsache dem Standesunterschied zu, denn ein so vornehmer Mann wie Leonhard Stefenelli und eine einfache Totengräbertochter – das passte einfach nicht zusammen.
Katharina schalt sich eine Törin und ermahnte sich jetzt mit aller Strenge, ihren Mut zusammenzunehmen und den Doktor aufzusuchen, um ihn, wie geplant, wegen Kilian von Hattstein zu befragen. Sie erhob sich entschlossen und hastete die Treppe hinauf, um sich ausgehfertig zu machen. Während sie sich sorgfältig die langen rotbraunen Haare kämmte, zu einem Knoten wand und hochsteckte, um das üppige Haar unter einer gestärkten Flügelhaube zu verbergen, ertappte sie sich jedoch dabei, wie ihr die Hände zitterten. Als sie ihr rehbraunes Sonntagsgewand aus der Kleidertruhe nahm und es anzog, konnte sich ihr Gatte, der inzwischen aufgestanden war und am Tisch seine Kohlsuppe löffelte, eines Kommentares nicht enthalten und bemerkte spöttisch: »Na, du machst dich ja fein wie zum Kirchgang. Was hast du denn heute noch Großes vor?«
»Ich hab mit dem Medicus etwas zu besprechen. Es ist wegen dem Vadder«, entgegnete Katharina knapp.
»Ach, Käthchen, was willst du denn noch alles machen? Es ist doch sowieso alles für die Katz. In drei Tagen ist doch schon die Hinrichtung. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass diese Laffen ihn begnadigen? Das wär ja das reinste Wunder. Glaub mir, Käthchen, mir tut es in der Seele weh, wenn ich sehe, wie du dich abmühst. Und das für nix und wieder nix! Find dich damit ab, so schwer es auch fällt. Mir tut es doch auch leid um den Heini. Verdammt leid sogar. Aber wenn die einen am Hängarsch haben, dann gibt’s kein
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