Das Geheimnis der Totenmagd
Kräfte zusammen, doch es gelang ihm auch dieses Mal nur ein schwaches, kehliges Flüstern. Der Angstmann beugte sich zu ihm und forderte ihn auf, in sein Ohr zu sprechen. Erst jetzt vernahm er, was Sahls letzter Wunsch war:
»Einen großen Krug Branntwein. Ich will mich besaufen.«
»Den sollst du bekommen, mein Alter. Und nicht bloß einen«, hatte der Henker erwidert und zielstrebig die Zelle verlassen.
Kurze Zeit später war er mit zwei Krügen Branntwein und zwei Bechern zurückgekehrt und hatte sich gemeinsam mit dem Gefangenen bis in die Nacht hinein haltlos betrunken, ohne dass zwischen ihnen mehr als ein Dutzend Worte gewechselt wurde.
»Ich … ich danke Euch«, wisperte Sahl, solange er noch halbwegs bei Sinnen war. Dann räusperte er sich, winkte den Henker noch einmal zu sich und flüsterte ihm zu:
»Könnt Ihr meiner Tochter bitte ausrichten, dass ich sie liebe und … sie soll nicht verzagen.«
»Darauf könnt Ihr Euch verlassen, mein Alter, ich werde es ihr sagen«, versprach der Henker ernst.
Kurz vor Mitternacht war der Scharfrichter dann sturzbetrunken nach Hause gewankt und hatte seinen Rausch ausgeschlafen. Am frühen Morgen hatte er dann gleich wieder einen Becher Branntwein gekippt, um seine zitternden Hände zu beruhigen, und im Laufe des Vormittags noch etliche mehr.
Unmittelbar vor der Hinrichtung hatte er Heinrich Sahl noch einmal aufgesucht und ihm eine ausreichende Dosis einer starken, betäubenden Medizin eingegeben, damit die höllische Pein bei der anstehenden Tortur des Radbrechens ein wenig abgemildert werde. Sahl befand sich bereits im Zustand der Agonie und war so schwach und entkräftet, dass er womöglich schon nach den ersten Schlägen das Zeitliche segnen würde. Der Henker wünschte ihm das im Stillen sogar, auch wenn dies für Unmut beim Hinrichtungspublikum sorgen würde, das dadurch um ein langes, qualvolles Tötungsspektakel gebracht wurde.
Der Angstmann erklomm nun die Stufen zum Blutgerüst, verbeugte sich kurz in Richtung der Ehrentribüne, wo sein oberster Dienstherr, der Stadtschultheiß Reichmann, saß, und zog sich unter dem tosenden Beifall und Gejohle der Menge blütenweiße Glacéhandschuhe über die geschmeidigen, feingliedrigen Hände. Um seinem Ruf als Fürst vom Rabenstein gerecht zu werden, pflegte er diese bei Hinrichtungen zu tragen. Dann stülpte er sich mit gravitätischer Geste die schwarze Lederkapuze mit den Sehschlitzen über den Kopf. Sie verbarg sein Gesicht, damit der Mann des Todes gegen den Fluch des Todgeweihten geschützt war. Breitbeinig und martialisch verharrte der Hüne eine Weile unbeweglich auf dem Podest, um mit seiner furchterregenden Erscheinung das Publikum erwartungsgemäß in Angst und Schrecken zu versetzen. Das furchtsame Raunen des Pöbels, das sich wie ein mächtiger Insektenschwarm rings um ihn auszubreiten begann, verriet ihm, dass dieser Pflicht Genüge getan war.
Sodann erteilte er seinen Bütteln mit einer knappen, herrischen Geste die Anweisung, den Delinquenten aufs Schafott zu schaffen. Aufgrund seiner durch die Folter zermalmten Beine konnte er die Bühne nicht mehr aus eigener Kraft erklimmen. Dort legten ihn die Schergen auf das große, von derben Holzkeilen gestützte Rad und banden seine abgespreizten Arme und Beine mit Lederriemen an den eisenbeschlagenen Speichen fest.
Heinrich Sahl ließ alles vollkommen widerstandslos über sich ergehen. Sein eingefallenes, bleiches Gesicht sah aus wie eine Totenmaske, und er schien nicht mehr in dieser Welt zu weilen.
»Fang er an, Jerg«, befahl der Henker seinem Gehilfen.
Sein Schwiegersohn, der junge, kräftige Jerg Kalbfleisch, assistierte ihm seit geraumer Zeit bei den Hinrichtungen und würde in Ermangelung eines Stammhalters dereinst die Scharfrichterei von ihm übernehmen. Er war angewiesen, mit dem Zertrümmern der Beine zu beginnen und sich langsam bis zu den Armen vorzuarbeiten. Nun ergriff der breitschultrige Mann die neben dem Rad bereitliegende Barré, eine eigens von der Schmiedeinnung für die Hinrichtung gefertigte Eisenstange, und schlug damit krachend auf Heinrich Sahls Schienbeine.
Der Totengräber gab ein durchdringendes Jaulen und Wimmern von sich, das kaum noch menschlich anmutete und einfach nicht mehr enden wollte. Angesichts seiner Schmerzensschreie gerieten die Schaulustigen immer mehr in Aufregung. Sie johlten lauthals vor Vergnügen, feuerten den Peiniger an, noch fester zuzuschlagen, und übertrumpften in ihrer zügellosen
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