Das Geheimnis der Totenmagd
Grausamkeit jeden Folterknecht.
Unter der blutgierigen Meute gab es nur eine Handvoll Menschen, die das bestialische Spektakel kaum ertragen konnten.
»Nein!«, schrie Anna Stockarn und erhob sich entsetzt von ihrem Sitz.
Daraufhin packte sie ihr Vater mit eisernem Griff am Handgelenk und fauchte sie an: »Benimm dich gefälligst!«
Anna spürte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach und ihr Magen zu rebellieren begann. Sie konnte nicht mehr länger an sich halten und erbrach sich in heftigen Schüben neben den Tribünenplatz.
»Was für eine Schande«, zischte ihre Mutter angewidert und holte ihr Riechfläschchen hervor.
Florian, der mitten unter dem Pöbel stand und die ganze Zeit nach Katharina Ausschau gehalten hatte, biss sich vor Entsetzen auf die Lippen und spürte, wie ihm die Knie weich wurden. Einzig aus Verbundenheit zu Katharina und dem Wunsche, ihr an diesem schrecklichen Tag beizustehen, war er zum Galgenfeld geeilt.
Sein Unmut gegen die aufgestachelten Zuschauer um ihn herum wurde immer größer. Das sind keine Menschen mehr, das sind Bestien, ging es ihm angesichts ihrer gefühllosen Jubelschreie durch den Sinn. Und nach der Hinrichtung sind sie dann alle wieder die braven Hausfrauen, harmlosen Schneidergesellen und treusorgenden Familienväter. Warum sind sie nur so grausam und erbarmungslos? Haben sie denn kein Herz im Leib?
Da vernahm er plötzlich einen gellenden Entsetzensschrei und blickte zum Richtplatz hin. Und dann sah er Katharina. Sie lag direkt vor dem Hinrichtungspodest, und ihr Gesicht war blutüberströmt. Für den jungen Maler gab es kein Halten mehr, mit aller Vehemenz bahnte er sich einen Weg durch die Menge, während oben auf dem Blutgerüst das unsägliche Schauspiel weiterging.
Mit gezielten Schlägen zertrümmerte Kalbfleisch die Kniegelenke des Totengräbers und ließ die Eisenstange anschließend mit aller Wucht auf Sahls Oberschenkel krachen. In diesem Moment spürte der erfahrene Henkersknecht, dass etwas nicht stimmte.
Heinrich Sahl hatte aufgehört zu schreien.
Das Publikum begann augenblicklich zu murren. Vereinzelt waren Pfiffe zu hören und wüste Beschimpfungen.
»Pennt ihr da oben, oder was?«, schrie eine adrett gewandete Bürgersfrau.
»Schlag ihn zu Brei, du fauler Sack, oder haste keine Eier in der Hose?«, brüllte ein junger Bäckergeselle, was mit zustimmendem Gegröle quittiert wurde.
Den Zuschauern standen Missmut und Enttäuschung in den geröteten Gesichtern, schon flogen erste Steine gegen das Schafott. Der Henkersgehilfe schien die schwelende Gefahr zu wittern.
»Der hat’s gehabt, Meister. Was soll ich denn jetzt machen?«, flüsterte Jerg dem an seiner Seite stehenden Henker zu und blickte ihn angstvoll an. Dieser zischte ihm zu: »Dresch weiter drauf, Jerg, sonst springt uns das Pack noch an die Gurgel!«
Aus langen Dienstjahren wusste der Henker nur allzu genau, dass mit einem Hinrichtungspublikum, das sich um seine Erwartungen geprellt fühlte, nicht zu spaßen war. Nicht selten kam es vor, dass der aufgebrachte und enttäuschte Pöbel in solch einem Fall über den Henker herfiel und ihn niedermetzelte.
Während Jerg erneut die Eisenstange durch die Luft sausen ließ, hielt Meister Hans den Atem an und verfolgte aus den Augenwinkeln heraus das Gebaren des Hinrichtungspublikums. Dies war erst der achte Schlag, dreizehn, als Unglückszahl und Zahl des Teufels, waren insgesamt vorgeschrieben. Das unangenehm knirschende Geräusch zertrümmerter Knochen war zu vernehmen, und das enttäuschte Murren des Publikums steigerte sich von Schlag zu Schlag.
Als schließlich die sterblichen Überreste des Delinquenten auf ein wesentlich kleineres Rad geflochten wurden, was durch die gebrochenen Glieder nun möglich war, und dieses mitsamt dem Toten an einem Pfahl aufgerichtet wurde, kamen aus der Menge wieder derbe Flüche und laute Pfiffe. Für den zweiten Durchlauf des Radbrechens war die Hinrichtung des Gemarterten vorgesehen, die alleine dem Henker oblag. Die Exekutionsregeln schrieben vor, dass die Tötung durch einen gezielten Stich ins Herz oder durch die Enthauptung erfolgen sollte.
Meister Hans, der genau spürte, dass er dem blutrünstigen Publikum nun endlich etwas bieten musste, zückte mit majestätischer Geste sein Henkersschwert und schlug mit einem einzigen gekonnten Hieb dem bereits toten Heinrich Sahl den Kopf ab. Anschließend spießte er das abgetrennte Haupt auf sein Richtschwert und präsentierte es mit hochgestrecktem Arm der
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