Das Geheimnis der Totenmagd
nächsten Tagen schonen. Heftiges Niesen oder Schnäuzen könnte wieder zu Blutungen führen. Habt Ihr Hunger? Darf ich Euch etwas zu essen bringen lassen?«
»Nein danke, ich möchte nichts essen. Aber wenn Ihr vielleicht einen Becher Wasser für mich habt?«
Der Arzt läutete umgehend nach einer Hausmagd und ließ Katharina einen Krug Wasser bringen. Sie trank gierig. Dann wandte sie dem Arzt den Kopf zu und blickte ihn zum ersten Mal eindringlich an, wenn auch mit stumpfen und glanzlosen Augen.
»Ich danke Euch«, flüsterte sie, ergriff unvermittelt die Hand des Arztes und küsste sie. Sie wusste selbst nicht so recht, was über sie gekommen war, aber bei all ihrem Leid und der dumpfen inneren Leere verspürte sie plötzlich eine fast schon schmerzhafte Sehnsucht nach seiner Berührung.
»Nicht doch! Das ist doch selbstverständlich«, erwiderte Stefenelli, aber Katharina hielt seine Hand fest umklammert und begann, lauthals zu schluchzen.
Der Arzt strich ihr beruhigend übers Haar. »Weint ruhig. Weint Euch nur richtig aus. Tränen sind das Salz der Seele, sie schwemmen den ganzen Dreck, den Ihr habt schlucken müssen, aus Euch heraus, und das wird Euch guttun.«
Erst nach über einer Stunde ließen Katharinas Tränen nach, sie lehnte sich erschöpft zurück und trocknete sich Augen und Wangen.
»Geht es Euch jetzt ein wenig besser?«, fragte der Arzt mitfühlend.
»Wie soll es mir denn bessergehen, jetzt, wo mein Vater tot ist«, murmelte die Totenmagd mutlos und starrte mit leerem Blick an die Decke. »Ich werde mir nie verzeihen können, dass es mir nicht gelungen ist, seine Unschuld zu beweisen.«
»Seid doch nachsichtig mit Euch selbst«, tröstete der Arzt. »Was hättet Ihr denn schon bewirken können? Gegen die Mühlen der Justiz sind wir doch alle machtlos.«
»Ja, das haben alle zu mir gesagt, doch ich wollte und konnte mich einfach nicht damit abfinden. Ich war des Glaubens, ich könnte Berge versetzen. Doch letztendlich habe ich nichts bewirkt, gar nichts! Mir ist es ja noch nicht einmal gelungen, den Schuldigen zu finden«, sagte sie bitter.
»Wer könnte es denn Eurer Meinung nach sein?«, erkundigte sich Doktor Stefenelli beiläufig, während er zum Wandbord ging und unter den zahllosen Fläschchen und Tiegeln, die dort standen, eine Glasphiole auswählte.
»Ich weiß es selbst nicht so genau, entweder die Kuttenträger auf dem Friedhof oder dieser sonderbare Krankentröster, der seit Mechthilds Ermordung unauffindbar ist.«
Auf Stefenellis skeptischen Blick hin berichtete sie ihm, was sich in der Nacht zu Allerseelen auf dem Peterskirchhof zugetragen hatte. Sie erzählte von dem seltsamen Gebetskreis, dem die Verstorbene angehört, und über den unguten Einfluss, den Kilian von Hattstein auf die Ermordete ausgeübt hatte. Stefenelli hörte ihr aufmerksam zu, aber schließlich meinte er bloß:
»Mit Verlaub, meine Liebe, das alles erscheint mir doch reichlich konfus. Wenn Ihr meinen Rat hören wollt: Lasst die Dinge besser ruhen. So, und jetzt gebe ich Euch eine Medizin, damit Ihr schön schlafen könnt, und morgen sehen wir weiter.«
Der Doktor träufelte einige Tropfen aus dem braunen Glasfläschchen in Katharinas Trinkbecher, füllte diesen mit Wasser auf und reichte ihn ihr. Die Totenwäscherin, der das Leben momentan wie ein einziges großes Jammertal erschien, nahm den Becher dankbar entgegen und leerte ihn in einem Zug. Sie hoffte darauf, bald in tiefen Schlaf zu fallen und dadurch wenigstens für kurze Zeit dem nagenden Schmerz und der abgrundtiefen Hoffnungslosigkeit zu entkommen.
Und da war sie wieder, die Süße, Gnadenreiche, umfing sie mit ihren mächtigen schwarzen Schwingen und trug sie mit sich fort an den einzigen Ort, so unendlich fern aller Unbill des Lebens, der ihr Frieden und Glückseligkeit spendete.
II. TEIL
EINE MÖRDERISCHE LIEBE
»An meinem Seil ich scheuche
Viel Narren, Affen, Esel, Gäuche,
Die ich verführ, betrüg und täusche!«
Sebastian Brant, »Das Narrenschiff«,
1494, Allegorie: »Frau Venus – Einen am Narrenseil der Liebe führen«
14
Annas Herz machte einen Sprung, als an jenem Mittwoch um die elfte Stunde endlich Schritte aus dem Innern des Turmes zu vernehmen waren. Bereits mehrfach hatte sie vergeblich den eisernen Türklopfer an Katharinas Haustür betätigt, und sie hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben.
Als ihr wenig später Katharina in der Türöffnung gegenüberstand, konnte sie nicht mehr an sich halten und schloss die
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