Das Geheimnis des Falken
klopfte den jungen Leuten auf die Schulter und stand auf. »Nein«, sagte ich, »wenn sie schon unterwegs waren, so waren sie nicht hinter mir her.«
Ich trat ans Fenster und machte die Läden auf. Das Auto, das vor Nummer 5 gestanden hatte, war verschwunden. »Mitunter«, sagte ich, »kommt es vor, daß man an Halluzinationen leidet. Das ist mir selbst passiert. Man glaubt, etwas zu sehen, das nicht von dieser Welt sein kann, und später klärt sich alles auf ganz normale Weise auf. Ihre Vigilante mag wohl existieren, offensichtlich gibt es sie tatsächlich, aber sie hat in euer aller Phantasie eine zu große Bedeutung angenommen und wirkt bedrohlicher, als sie in Wirklichkeit ist.«
»Da haben wir's«, sagte Paolo und stand gleichfalls auf, »genau das, was alle Spötter behaupten. Aber es stimmt nicht. Warten Sie nur ab. Komm, Caterina.«
Seine Schwester zuckte die Achseln und folgte ihm langsam zur Tür.
»Ich weiß, es klingt albern«, sagte sie noch, »wie ein Ammenmärchen, mit dem man Kinder ins Bockshorn jagen will. Aber eines weiß ich: Ich würde nie und nimmer bei Nacht durch Ruffano spazieren, wenn nicht mindestens ein halbes Dutzend andere dabei wären. Hier in der Gegend und rund um die Piazza Matrice ist alles soweit in Ordnung. Aber nicht oben auf dem Hügel, nicht um den Palazzo herum.«
»Vielen Dank«, sagte ich, »ich werde mir die Warnung zu Herzen nehmen.«
Ich rauchte meine Zigarette und legte mich zu Bett. Die Geschichte von der Vigilante hatte auf mich wie ein Anti-Schockmittel gewirkt. Der gesunde Menschenverstand sagte mir, daß die Begegnung auf der Treppe, dann der Rückzug der Gestalt auf die offene Pforte des Palazzo meine Phantasie auf Touren gebracht hatte, nachdem sie durch die Begegnung mit der Vergangenheit ohnehin schon angeheizt war.
Als ich dann schließlich vor unserem alten Hause stand, war die natürliche Folge, daß ich aus dem Spiel von Licht und Schatten Aldo beschwor, einen lebendigen Aldo. Diese Erfahrung, sagte ich mir jetzt, war bereits die zweite ihrer Art. Die erste hatte darin bestanden, daß ich in der ermordeten Frau in Rom, in der Via Sicilia, Marta zu erkennen glaubte. Reine Halluzination. Der zweite Fall: Mein Bruder war mir erschienen. Beruhigt und auf eine sonderbare Art gleichsam freigesprochen vor mir selbst, schlief ich ein.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte – hungrig, mit klarem Kopf und voller Energie dem Tag entgegensehend –, sagte ich mir, es sei an der Zeit, allen Gespenstern den Garaus zu machen, die Schatten, die mich heimsuchten, endgültig zu verscheuchen.
Ich würde den schielenden Schuster aufsuchen und ihn fragen, ob Marta noch lebte. Ich würde sogar an der Tür meines einstigen Zuhause in der Via del Sogni läuten und Signora Butali, die Präsidenten-Gattin, fragen, ob es zu ihren Gepflogenheiten gehörte, nächtliche Besucher zu empfangen.
Diese letztere Unternehmung würde mir nach menschlichem Ermessen eine wohlverdiente Abfuhr einbringen und obendrein eine Beschwerde im Sekretariat der Universität, welche meiner derzeitigen Beschäftigung ein Ende setzen dürfte. Sei's drum! Meine Geister würden damit ein für allemal geschlagen sein, und ich wäre wieder ein freier Mensch.
Meine jungen Freunde, die Geschwister Pasquale, und die übrigen Studenten waren bereits zu ihren jeweiligen Vorlesungen aufgebrochen, bevor ich ein Viertel vor neun das Haus verließ und durch die Via Vittorio Emanuele zum Palazzo Ducale ging.
Ruffano zeigte sein strahlendstes Morgenlächeln. Um mich herum lärmte und hastete der hellichte Tag. Keine Vigilante, die in Torbögen lauerte und die Passanten in Angst und Schrecken versetzte.
Ich überlegte, wieweit der Bericht der beiden Studenten wohl der Wahrheit entsprechen mochte und ob es sich nicht zu fünfzig Prozent um eine durch Massenhysterie übersteigerte Legende handelte.
Die Gerüchte verbreiten sich mit der gleichen Geschwindigkeit wie ein Bazillus. Das hatte sich gelegentlich auch während meiner ›Sonnenreisen‹ gezeigt, und es gab kein Mittel dagegen. In einem Fall hatte ich unendlich viel Geduld und List aufbringen müssen, um die Behauptung zu widerlegen, daß die Polstersitze des Busses von Wanzen besiedelt seien. Das war passiert, nachdem jemand einen Floh in Neapel aufgefangen hatte. Plötzlich verlangten alle erbittert nach einem anderen Bus. Um ein Haar wäre die ganze Reise im Eimer gewesen.
Ich betrat die Palastbibliothek, als die Domuhr neun schlug, und kam meinem
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