Das Geheimnis des Falken
Chef damit um rund drei Minuten zuvor. Giuseppe Fossi, so schien es mir, sah geschlagen aus. Vielleicht hatten ihn die Unternehmungen der vergangenen Nacht in mehr als einer Hinsicht mitgenommen. Er wünschte mir und den anderen sehr kurz guten Morgen.
Ich mußte mich sofort ans Sortieren machen und die Bände in deutscher Sprache heraussuchen, die der Universität gehörten und aus Versehen zu den Beständen des Palazzo gelegt worden waren.
Die Arbeit fesselte mich, weil sie so völlig verschieden war von meinen üblichen Pflichten, die in der Überprüfung von Reiserouten und Zahlenkolonnen bestanden hatten. Ganz besonders interessierte mich ein vierbändiges Werk, das ein deutscher Gelehrter Anfang des 19. Jahrhunderts verfasst hatte und das – laut Giuseppe Fossi – außerordentlich selten war.
»Der Kunstrat und wir streiten uns darum, wer der Eigentümer ist«, berichtete Fossi, »legen Sie die Bände für den Augenblick lieber beiseite, gesondert von den anderen. Ich muß das erst mit dem Direktor klären.«
Die Seiten klebten aneinander, als ich die Bücher aufzuschlagen versuchte. Wahrscheinlich waren sie nie gelesen worden. Der Erzbischof von Ruffano, dem sie einmal gehört haben mußten, mochte entweder kein Deutsch gesprochen haben oder zu entsetzt über den Inhalt gewesen sein, um weiterzulesen.
»Claudio di Malebranche, erster Herzog von Ruffano, wurde ›der Falke‹ genannt«, las ich. »Sein kurzes Leben ist geheimnisumwittert. Die zeitgenössischen Quellen setzen uns nicht in die Lage, mit Sicherheit über die unerhörten Laster zu urteilen, die der Tradition und der Legende nach sein Andenken verdunkeln. Er war ein Jüngling von außergewöhnlichen Gaben, aber Reichtum und Glück verdarben ihn. Er ließ die Selbstdisziplin außer acht, die er anfänglich geübt hatte, umgab sich mit einer kleinen Schar verwahrloster Gefolgsleute und setzte die braven Bürger von Ruffano durch schändliche Ausschweifungen und haarsträubende Grausamkeiten in Schrecken. Am Abend wagte niemand auszugehen, aus Furcht, daß der Falke plötzlich auf die Stadt herabstoßen könnte und mit Hilfe seiner Begleiter …«
»Dürfte ich bitten, Signor Fabbio! Helfen Sie doch eben bei den Eintragungen hier!«
Die halb müde, halb gereizte Stimme meines Vorgesetzten entriss mich dem faszinierenden Buch, in dem der deutsche Gelehrte eben zu so aufregenden Enthüllungen ansetzte.
»Wenn Sie in den Büchern der Bibliothek herumlesen möchten«, sagte Fossi, »müssen Sie das schon in ihrer Freizeit tun und nicht während der Dienststunden, für die Sie von uns bezahlt werden.«
Ich entschuldigte mich. Entweder waren die Kochkünste oder die Ansprüche der Signorina überwältigend gewesen …
Ich tat so, als bemerkte ich nichts von Tonis stummem Spiel, der, hinter dem Rücken unseres Chefs, in scheinbarer Erschöpfung den Kopf in den Armen wiegte. Es überraschte mich nicht, als Giuseppe Fossi kurz vor zwölf erklärte, er fühle sich nicht wohl.
»Ich habe gestern nacht wohl etwas gegessen, das mir nicht bekommen ist«, sagte er. »Ich werde nach Hause gehen und mich hinlegen müssen, damit es besser wird.«
Signorina Gatti, die Sekretärin, und ich gaben unserem Bedauern Ausdruck.
»Ich werde am späteren Nachmittag wiederkommen, wenn mir besser ist«, bemerkte Fossi. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie inzwischen weiterarbeiten würden.«
Er machte sich eilends auf den Weg, das Taschentuch vor den Mund gepresst. Signorina Gatti erläuterte, es sei allgemein bekannt, daß Signor Fossi mit dem Magen zu tun habe. Außerdem sei er überarbeitet. Er schone sich eben nie.
Der unverbesserliche Toni erging sich daraufhin in neuen Faxen, die ich abermals übersah.
Das Telefon klingelte, und da ich dem Apparat am nächsten stand, nahm ich den Hörer ab. Eine Frauenstimme, sanft und angenehm, fragte nach Signor Fossi.
»Ich bedaure, aber Signor Fossi ist nicht da«, erwiderte ich, »kann ich irgend etwas für Sie tun?«
Die Stimme fragte, wie lange er fortbleibe, und ich antwortete, ich könne das nicht genau sagen. Er habe sich nicht wohl gefühlt und sei nach Hause gegangen. Eine kleine Unpässlichkeit. Die angenehme Stimme drückte Besorgnis aus. Ich sagte etwas Beruhigendes und dachte dabei, daß der Bibliothekar auf das schwache Geschlecht offenbar anziehend wirkte. Bei der Dame am Telefon handelte es sich zweifellos nicht um Carla Raspa. Die Stimme war tiefer.
»Mit wem spreche ich?« fragte die Dame weiter.
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