Das Geheimnis des Falken
Diese Geste ließ vermuten, daß sie sie mit nach oben tragen würde, nachdem ich gegangen war.
»Sie werden die Bände sehr interessant finden«, bemerkte ich, »das heißt, wenn Sie deutsch lesen können.«
»Das kann ich nicht«, sagte sie und ließ es dabei.
Ich hatte keinen Vorwand mehr, mich noch länger aufzuhalten. Ich war ja auch nur ein Fremder, und sie hatte genug von mir. Auch das Haus, mein Haus, verhielt sich gleichgültig. Ich lächelte, beugte mich über ihre ausgestreckte Hand und ging. Die Tür fiel hinter mir zu.
Ich wanderte über den fliesenbelegten Pfad zurück zum Gartentor und trat hinaus auf die Via del Sogni. Fine gebückte alte Frau, die in einiger Entfernung ihres Weges ging, die davonflatternden Röcke eines Priesters, ein Hund, der an der Mauer schnupperte, und sogar der helle Tag – all dies gehörte dem Heute an, einem Ruffano, das nicht das meine war.
Ein deutsches Sprichwort empfiehlt, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Warum sollte ich mich, nach meinem ersten Geist, nicht auch gleich dem zweiten stellen? Anstatt unmittelbar zum Palazzo Ducale zurückzustreben, schlug ich den Weg zum Oratorium von Ognissanti ein. Ich wollte dem schielenden Schuster in seinem eigenen Bau gegenübertreten.
Bevor ich noch die Ecke der Straße erreicht hatte, sah ich, daß sich dort ein Menschenauflauf gebildet hatte. In den Fenstern lagen Leute, unter ihnen die unliebenswürdige Bewacherin des Oratoriums. Dicht an den Stufen war ein Wagen aufgefahren. Ein Polizeiauto, in das ein Mann und eine Frau geschoben wurden. Ich trat zurück und wartete darauf, daß der Wagen wendete und davonfuhr. Indessen versperrte mir die schwatzende Gruppe vor mir die Sicht auf das Auto und das Paar im Fond. Schließlich zerstreute sich der Haufen, immer noch schnatternd und gestikulierend. Ich sprach eine rundäugige Frau in meiner Nähe an, die ein weinendes Kind auf dem Arm trug.
»Haben sie jemanden verhaftet?« fragte ich.
Sie drehte sich eifrig zu mir um, wie die meisten Frauen in so einem Menschenauflauf begierig, den Passanten über das Vorgefallene aufzuklären.
»Die beiden waren Signor Ghigi und seine Schwester«, sagte sie, »nein, verhaftet worden sind sie nicht, zu ihrem Glück. Aber die Polizei hat sie trotzdem abgeholt. Sie sollen eine Leiche identifizieren. Es heißt, es handle sich um die Leiche jener Frau, die in Rom ermordet worden ist. Es stand in der Zeitung, und vielleicht ist es ja die Leiche der Untermietern!, sagen sie, jener Frau, die jahrelang bei den Ghigis gewohnt hat. Sie war eine Trinkerin, und eines Tages ging sie weg, sie hatte keinem der beiden ein Wort gesagt. Und nun fragt man sich, die Polizei fragt sich, alle hier im Viertel fragen sich, ob es wohl dieselbe Frau ist, ob es die arme Marta sein könnte!«
Sie redete immer noch, und das Kind schrie immer noch, als ich mich längst abgewandt hatte und die Straße wieder hinunterging. Mein Herz klopfte zum Zerspringen.
8. Kapitel
Auf der Piazza Matrice kaufte ich mir eine Zeitung und blieb einen Augenblick unter den Kolonnaden stehen, um die Seiten zu überfliegen. Das Blatt enthielt nichts über den Mord.
Die Polizei machte sich, offenbar aufgrund von Informationen über vermißte Personen, in der Provinz zu schaffen. Vermutlich hatten die Ghigis Martas Verschwinden bei der hiesigen Dienststelle gemeldet und diese, da die Altersgruppe stimmte, nach Rom telefoniert. Nun wurden also die Ghigis abtransportiert, um die Leiche zu identifizieren, oder vielleicht nicht einmal das. Vielleicht hatte die römische Polizei nur Kleidungsstücke geschickt, die Tücher und die Körbe. Das würde wahrscheinlich genügen. Es war womöglich gar nicht erforderlich, die Ghigis bis nach Rom zu schleppen.
Kein Fortschritt in der Aufklärung des Verbrechens. Kein Motiv für einen Diebstahl. Die Polizei würde niemals herausbekommen, daß kurz nach Mitternacht ein Mann einen Zehntausend-Lire-Schein in die Hand des Opfers geschoben hatte. Inzwischen war das Geld verbraucht, inzwischen war es aus der Hand des Raubmörders in ein Dutzend andere Hände übergewechselt, und man würde den Dieb und Mörder nicht erwischen. Und den Spender des Geldscheines auch nicht. Beide waren schuldig. Beide mußten sie sie tragen, die Bürde dieser Schuld.
Als ich die Bibliothek betrat, waren die Sekretärin und die Assistenten längst vom Essen zurück. Die Nachmittagsstunde war vorgerückt. Alle sahen mich an, als wüssten sie, daß ich vom
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