Das Geheimnis des Falken
Schmerz.
Die glühende Augustsonne röstete den fliesenbelegten Pfad, und die Schritte der Ordonnanz hallten, als der Mann hin und her ging beim Verladen des Gepäcks. Marta war in der Messe in San Donato. »Nun komm schon, beeil dich!« rief meine Mutter. »Der Kommandant wartet nicht!« Aber ich mußte die Aufnahme von Aldo suchen. Aldo, bevor er abgeschossen wurde, Aldo in Uniform mit seinem Fallschirm.
»Lass das Foto. Marta kann es uns nachschicken.«
»Nein. Ich habe es gefunden. Es paßt gerade in meine Tasche hinein.«
Und so lief ich die Treppe hinab. Und so eilten die Hände der Signora über die Tasten, flogen die Tonleiter immer höher hinauf und dann wieder hinab. Dasselbe Motiv noch einmal und noch einmal, sorglos, fröhlich. In einer Arabeske war kein Platz für Gefühle. Außer man war, wie der Zuhörer, ein Reiseleiter, ein Fremdenführer, der weiter und weiter und immer weiter fuhr und aus der Gegenwart in die Vergangenheit floh.
Sie sagte: »Als Sie klingelten, spielte ich gerade Chopin.«
Vielleicht bekommen wir den Tod, den wir verdienen; vielleicht hat meine Mutter mit ihrem krebskranken Unterleib für die zweifelhaften Wonnen des Doppelbetts bezahlt, haben der Kommandant und, ja, auch mein Vater, beladen mit dem, was sie einst getan hatten, sich selbst verdammt zum Hungertod, der eine in einem russischen, der andere in einem alliierten Gefangenenlager. Aber warum mußte das Messer für Marta sein?
Ich setzte mich auf einen Stuhl und schaute auf Signora Butali. Das Klavierspiel erweckte sie zum Leben. In ihr allzu blasses Gesicht war Farbe gekommen. Am Klavier, nahm ich an, entspannte sie sich. Hier gelang es ihr, ihren kranken Mann für eine Weile zu vergessen. Ich betrachtete sie mit leidenschaftslosem Interesse. Sie mochte so alt sein wie ich oder ein paar Jahr älter. 35 oder 36. Genau das Alter, wo man der Vergangenheit nachtrauert oder sich plötzlich verliebt, das Alter der großen Dramen. Das Alter, in dem man nach zehn Uhr einen Mann einlässt.
Wie gestern unterbrach der schrille Klang des Telefons ihr Spiel. Sie stand auf, indem sie sich mit einem Blick bei mir entschuldigte.
»Ja«, sagte sie in die Muschel hinein, »ja, ich habe sie.«
Irgendwie erriet ich, daß von den Büchern die Rede war. Dem Präsidenten mußte sehr daran gelegen sein. Aus ihrer Antwort schloß ich auch, daß er seine Frau gefragt hatte, ob sie allein sei; denn sie erwiderte in dem neutralen Tonfall, den man in Gegenwart von Fremden anzuwenden pflegt: »Nein, im Augenblick nicht. Ruf später noch einmal an.« Damit legte sie den Hörer ziemlich schnell auf.
Meinem Gedankengang folgend, fragte ich albernerweise, ob es dem Präsidenten besser ginge. Einen Augenblick war sie verwirrt, aber sie faßte sich sofort.
»O ja«, antwortete sie, »sehr viel besser. Ich wäre nie aus Rom zurückgekehrt, aber ich hatte hier so viel zu erledigen.«
Hatte sie den Eindruck, ich würfe ihr vor, daß sie sich nicht genug um ihren Mann kümmerte? Vielleicht. Auf jeden Fall war in mir inzwischen der Verdacht aufgestiegen, daß der Anruf gar nicht aus Rom gekommen war.
Der Zauber war gebrochen. Sie ging nicht an den Flügel zurück. Ich war aufgestanden, als das Telefon läutete, und schaute jetzt auf meine Uhr.
»Sie waren sehr liebenswürdig, Signora«, sagte ich, »und Sie haben mir eine große Freude gemacht. Aber jetzt darf ich Ihre kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.«
»Und ich nicht die Ihre«, erwiderte sie, »aber Sie müssen wiederkommen. Wie war doch Ihr Name?«
»Fabbio«, sagte ich, »Armino Fabbio. Ich arbeite vorübergehend in der Bibliothek.«
»Dort ist man bestimmt sehr froh, Sie zu haben«, sagte sie. »Hoffentlich wird Signor Fossi bald wiederhergestellt sein. Bitte grüßen Sie ihn von mir, und auch Signorina Gatti.«
Sie war bereits auf dem Wege zur Tür. Ich folgte ihr auf den Treppenabsatz. Als Schlafzimmer schien sie das Südzimmer zu benutzen, das wir für Logierbesuch reserviert hatten. Genau genommen ging es nach Südwesten, und durchs Fenster konnte man die alten Klosteranlagen sehen, die jetzt als Städtisches Krankenhaus dienten. Mein Zimmer lag gegenüber.
»Noch einmal vielen Dank. Signora«, sagte ich.
Das Lächeln, mit dem sie mich verabschiedete, war huldvoll, aber mechanisch.
»Nichts zu danken«, erwiderte sie. »Ich spiele für jeden gern, der die Musik liebt.«
Ich folgte ihr die Treppe hinunter. Als wir in die Diele kamen, nahm sie die Bücher an sich.
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