Das Geheimnis des Falken
haben einen Vogel«, widersprach ein anderer. »Haben Sie nicht gemerkt, daß er gegen die Industriellen stichelte? Der ist Kommunist, das liegt doch auf der Hand. Es heißt, er sei Parteimitglied.«
»Meiner Meinung nach interessiert er sich nicht die Bohne für Politik«, mutmaßte ein dritter. »Er ist einfach ein großartiger Scharlatan und weiter gar nichts, und damit kriegt er seine Festival-Belegschaft fein an die Kandare. Das letzte Mal hat er's genau so gemacht, als er die Schweizergarde aufstellte. Ich wollte mich eigentlich melden. Aber dann sah ich jenes Duell! Aus mir wird kein Kunstrat-Direktor Hackfleisch machen.«
Keiner wagte, laut zu sprechen. Sie stritten sich, aber im Flüsterton. Dann zogen wir, den Mädchen nach, die Treppe hinunter.
»Eins ist sicher«, bemerkte jemand, »wenn dies bis zu den WW-Studenten durchsickert, gibt es Mord und Totschlag.«
»Und wer wird totgeschlagen?«
»Nach der Schau, die wir gerade erlebt haben?«
»Die natürlich, die WWs.«
»Dann würde ich mich melden.«
»Ich auch. Alle würden sich melden. Rauf auf die Barrikaden!«
Das Gefühl, das Gesicht verloren zu haben, war überwunden. Auf der Piazza Maggiore diskutierten und stritten sie noch eine Weile weiter, ehe sie in Richtung Universität und Studentenheim ihres Weges zogen.
Ich wartete, bis die Gestalt, die ich auf der Domtreppe bemerkt hatte, zu mir herunterkam.
»Nun?« sagte Carla Raspa.
»Nun?« sagte ich meinerseits.
»Ich habe mir nie gewünscht, ein Mann zu sein«, sagte sie. »bis heute abend. Ich dachte immer so, wie es in jenem amerikanischen Song heißt: ›Was sie können, kann ich besser.‹ Aber offenbar doch mit einer Ausnahme: Kämpfen.«
»Vielleicht werden sich Rollen auch für Frauen finden«, sagte ich. »Er wird Sie sicher noch rekrutieren. In jedem Menschenauflauf gibt es Frauen, die schreien und mit Steinen werfen.«
»Ich will aber nicht schreien«, sagte sie, »ich will kämpfen.« Dann fragte sie und sah mich genauso verächtlich an wie vorhin die Studentinnen: »Warum haben Sie sich nicht gemeldet?«
»Weil ich nur ein Zugvogel bin«, antwortete ich.
»Das ist kein Grund. Das bin ich letzten Endes auch. Ich kann jeden Tag weggehen und meine Vorlesungen anderswo halten, mich versetzen lassen. Im Augenblick freilich denke ich gar nicht daran. Nicht nach dem, was ich heute abend gehört habe. Es könnte sein …« Sie unterbrach sich, während ich ihr Feuer gab, »… es könnte sein, daß ich mir genau das wünsche: Ein Ziel, eine Sache die man verfechten kann.«
»Sehen Sie ein Ziel darin, bei einem Festival mitzuspielen?« fragte ich.
»Er sprach nicht von Spielen«, sagte sie.
Es war ein Samstagabend und noch früh. Die Leute spazierten auf der Straße auf und ab, Freunde, Pärchen, Familien. Mir schien, daß nicht viele Studenten darunter waren. Sie hatten sich fürs Wochenende nach Hause aufgemacht. Die jungen Leute, die hier herumbummelten, kamen aus den Läden, den Banken, den Büros. Es waren die Eingeborenen von Ruffano.
»Wie lange lebt er hier schon?« fragte ich.
»Professor Donati? Oh, seit geraumer Zeit. Er ist hier geboren, war Kampfflieger im Krieg, galt als gefallen, kam aber zurück, studierte, machte Examen, blieb als Dozent an der Universität, bis ihn der Kunstrat von Ruffano als sein Glanzstück vereinnahmte und vor ein paar Jahren zum Direktor wählte. Er ist der Liebling der Herren in Amt und Würden. Ein paar Leute freilich hassen ihn wie die Sünde. Nicht der Präsident übrigens. Der Präsident schwört auf ihn.«
»Und die Frau des Präsidenten?«
»Livia Butali? Keine Ahnung. Sie ist ein Snob. Lebt ganz für sich und denkt immer nur an Musik. Sie stammt aus einer alten Florentiner Familie und trägt das ständig zur Schau. Ich glaube kaum, daß der Professor Donati viel Zeit an sie verschwenden würde.«
Wir waren auf der Piazza Matrice angelangt, und plötzlich fiel mir mein Versprechen ein, meine Begleiterin zum Essen einzuladen. Ich fragte mich, ob auch sie es vergessen hätte. Vor dem Haus Via San Michele Nummer 5 blieben wir stehen, und unvermittelt streckte sie mir die Hand hin.
»Halten Sie mich nicht für unhöflich«, sagte sie, »aber ich möchte heute abend lieber allein sein. Ich möchte über das nachdenken, was wir eben gesehen haben. Ich werde mir ein Süppchen kochen und früh zu Bett gehen. Sind Sie enttäuscht?«
»Nein«, sagte ich, »mir geht es genauso wie Ihnen.«
»Dann auf ein anderes Mal.« Sie nickte
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