Das Geheimnis des Falken
armen Marta machte mir nichts aus. Abgesehen von den Umständen, unter denen er eingetreten war. Irgendwann im Lauf des Tages würde ich Aldo aufsuchen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich die Trümpfe in der Hand. Ich war gefaßt auf das, was kommen würde. Er war es nicht.
Ich stellte den Kragen des leichten Überziehers, der mir als Trenchcoat dienen mußte, bis über beide Ohren auf und ging hinaus in den Regen. Die Fensterläden in Nummer 5 waren immer noch geschlossen. Über die Piazza Matrice schlenderten ein paar Gestalten, die offenbar dasselbe Ziel hatten wie ich. Andere standen unter den Kolonnaden herum und warteten auf den Bus, der die Sonntagszeitung brachte, oder auf irgendeinen anderen, der sie aus Ruffano hinausbringen sollte. Ein paar junge Leute stiegen, dem Wetter zum Trotz, auf ihre Vespas. »Es wird nicht lange dauern«, schrie einer durch das Getöse des Motors hindurch. »Am Meer soll die Sonne scheinen.«
Die Glocken von San Cipriano fuhren fort zu läuten. Sie klangen nicht so tief und voll wie die Domglocken, aber in meinen Ohren feierlicher, fordernder und doppelt eindringlich, bevor die volle Stunde schlug, als gälte es, die Saumseligen in die Knie zu zwingen.
Bedrückend und vertraut wehte mir im Kircheninnern der altbekannte Duft entgegen. Zugleich war ich betroffen von der geringen Anzahl der Besucher. In meiner Kinderzeit waren wir immer sehr früh gekommen, weil mein Vater seinen gewohnten Platz einzunehmen wünschte. Die Kirche war voll gewesen bis in die Seitenschiffe. Nicht so an diesem Sonntag. Es mochten halb so viele Kirchgänger da sein wie früher. Meist Familien oder Frauen mit kleinen Kindern. Ich stellte mich an die Seitenkapelle und hatte das Gefühl, einem uralten Ritus zu gehorchen.
Die Türen der Kapelle standen offen, aber diesmal fiel kein Lichtschein auf das Gesicht des Lazarus. Das Gemälde war verhängt. Das waren auch die übrigen Bilder in der Kirche und die Statuen und die Kruzifixe. Erst jetzt fiel mir ein, daß Passionssonntag war.
Ich hörte zu, wie sie die Messe sangen: die dünnen Stimmen der Chorknaben sickerten in mich ein, ohne daß ich einen Schmerz dabei empfand. Mein Herz war leer oder vielleicht im Traum. Ein Priester, den ich nicht kannte oder nicht wieder erkannte, hielt eine zwanzig Minuten lange Predigt und sprach von überstandenen und von Gefahren, die noch kommen würden, und davon, daß Jesus Christus, unser Herr, immer noch für uns und unsere Sünden litt.
Neben mir gähnte ein Kind. Das kleine Gesicht war weiß vor Müdigkeit. Eine Frau, die meine Mutter hätte sein können, rief das Kind zur Ordnung. Dann schlurften die spärlichen Kommunikanten zur Kommunionsbank. Überwiegend Frauen.
Eine der Frauen, sehr gut angezogen, einen schwarzen Spitzenschleier auf dem Kopf, hatte die ganze Zeit über gekniet. Sie ging nicht an die Kommunionsbank. Sie hatte das Gesicht in die Hände gelegt. Als alles vorüber war, als die Priester und die Choristen sich zurückgezogen hatten, zerstreuten sich die Leute, ihre Gesichter wirkten immer noch feierlich, aber auch irgendwie erleichtert. Sie hatten ihre Pflicht getan. Als die Frau aufstand und sich umwandte, sah ich, daß es Signora Butali war.
Ich ging schnell voran und wartete vor der Tür. Der Junge auf der Vespa hatte recht behalten. Es regnete nicht mehr. Die Sonne, die am Meer schien, war inzwischen bis nach Ruffano vorgedrungen.
»Signora?« sagte ich fragend.
Sie sah mich aus leeren Augen an, wie jemand, der eben noch weit weg war und sich wider Willen in eine weniger angenehme Welt zurückgerufen sieht.
»Ja?« sagte sie.
Ich begriff, daß sie mich nicht erkannte, daß ich keine Spur in ihrem Gedächtnis hinterlassen hatte.
»Armino Fabbio«, sagte ich, »ich war gestern mit ein paar Büchern bei Ihnen.«
Sie begann sich zu erinnern. Ich konnte sie förmlich denken sehen. Ach ja, der Hilfsbibliothekar.
»Natürlich«, sagte sie, »bitte seien Sie mir nicht böse. Guten Morgen, Signor Fabbio.«
»Sie haben in der Messe vor mir gesessen«, sagte ich. »Jedenfalls nahm ich an, daß Sie es waren, ich wußte es nicht genau.«
Während sie neben mir die Treppe hinunterging, schaute sie zum Himmel auf und stellte fest, daß sie den Schirm, den sie aufgespannt hatte, gar nicht brauchte.
»Ich bin gern in San Cipriano«, sagte sie, »die Kirche hat mehr Atmosphäre als der Dom. Ob es noch schönes Wetter geben wird?«
Abwesend sah sie sich um, und einen Augenblick war ich
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