Das Geheimnis des Feuers
als die Mine explodierte. »Heute üben wir nicht mehr«, sagte er. »Doktor Raul hat gesagt, dass du gern auf der Straße sitzt.« Sofia nickte. Sie hörte nur aus der Ferne, was er sagte. Sie dachte an das, was passiert war, das, was sie erst jetzt begriffen hatte. Eine Mine war explodiert. Sie hatte gespielt, sie hatte die Augen zugemacht, während sie lief. Sie war auf die Mine getreten. Es war ihre Schuld, dass Maria tot war.
Innen drin war sie ganz kalt. Nur Monster brachten andere Menschen um. Mestre Emilio rollte sie hinaus auf die Straße. »Benthino holt dich ab, wenn es Zeit ist, nach Hause zu fahren. Bleib hier in der Sonne sitzen, damit dir wieder warm wird.« Miranda war da. Und all die anderen Frauen. Aber Sofia wollte mit niemandem reden. Sie zog sich die Decke über den Kopf. Sie wollte unsichtbar sein. So saß sie noch da, als Benthino sie abholte. Sie gab keine Antwort, als er fragte, warum sie unter der Decke saß. Als das Auto sie in das Altenheim gebracht hatte und Veronica sie in ihrem Stuhl zu ihrem Zimmer rollte, saß sie immer noch mit der Decke über dem Kopf da. Sie wollte nichts essen. Erst als sie sich in ihr Zimmer geschleppt und die Tür zugemacht hatte, zog sie sich die Decke vom Kopf. In ihr war es ganz leer, genauso leer wie in dem dunklen Zimmer, wo sie auf dem Fußboden saß. Sie konnte nur eins denken, sie wollte nicht mehr leben. Es war ihre Schuld, dass Maria tot war. Ich geh nie mehr von hier weg, dachte sie. Ich bleibe hier auf dem Boden sitzen, bis ich alt bin.
Es wurde Abend. Veronica brachte einen Teller mit Essen. Aber Sofia warf sich die Decke über den Kopf und gab keine Antwort, als Veronica fragte, ob sie nicht hungrig sei. Veronica ging und machte die Tür hinter sich zu. Sofia ließ die Decke über ihrem Kopf. Unbeweglich saß sie da und wartete darauf, dass sie alt wurde.
Die Tür wurde wieder geöffnet. Sie dachte, es wäre Veronica, die noch einmal zurückkäme. Aber etwas war anders. Das waren nicht Veronicas Schritte. Sofia saß unter der Decke und versuchte herauszubekommen, wer es war. Sie hörte, wie sich die Person, die hereingekommen war, aufs andere Bett setzte. Sie hörte auch, wie ein Licht angezündet wurde, und spürte den Geruch nach Rauch und Stearin durch die Decke dringen. Schließlich konnte Sofia ihre Neugier nicht länger beherrschen und zog die Decke weg. Auf dem anderen Bett saß ein Mädchen in ihrem Alter. Sofia sah, dass ihr ein Bein fehlte, das linke. Sie sahen einander an. »Ich heiße Hortensia«, sagte das Mädchen. »Wie heißt du?«
»Sofia.«
»Hast du auch ein Bein verloren?«
»Beide.« Es war wieder still. Sie sahen einander an. »Warum sitzt du unter der Decke?«, fragte das Mädchen. Sofia gab keine Antwort. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Ich soll hier wohnen«, sagte Hortensia. »Während ich im Krankenhaus lerne mit einem neuen Bein zu gehen.« Sofia dachte, sie träumte. Musste sie wirklich nicht mehr allein hier sein? »Wie lange bleibst du hier?«, fragte sie. »Ich weiß nicht«, antwortete Hortensia. »Bestimmt sehr lange.« Von diesem Augenblick an veränderte sich alles für Sofia. Sie war nicht mehr allein.
Hortensia und Sofia wurden Freundinnen. Manchmal dachte Sofia, es wäre, als hätte sie eine neue Schwester bekommen. Es konnte nie dasselbe werden wie mit Maria. Aber alles war so viel leichter geworden, seit Hortensia da war. Nachts konnte Sofia auf ihre Atemzüge lauschen und sie wusste, dass sie auch noch am Morgen da sein
würde. Sie fuhren zusammen ins Krankenhaus, sie übten zusammen, sie saßen zusammen draußen bei den Frauen. Sie halfen einander die Haare flechten, sie erfanden Lieder und sie redeten über alles, was um sie herum geschah. Hortensia war auch auf eine Mine getreten. Sie kam von weit her, so weit, dass ihre Mama sie niemals besuchen konnte. »Ich leih dir meine Mama«, sagte Sofia. »Lydia hat auch Platz für dich.« Das stimmte genau. Als Lydia zu Besuch kam und sah, wie froh Sofia darüber war, dass sie nicht mehr allein war, behandelte sie Hortensia sofort, als ob sie ihre Tochter wäre.
Die Tage vergingen schnell. Obwohl es sehr schwer war, auf neuen Beinen gehen zu lernen, merkten sie beide, dass es immer besser und besser ging. Eines Tages stellte Sofia fest, dass sie es mit nur einer Krücke schaffte. Mestre Emilio kam dazu und beobachtete ihre Fortschritte. Er versprach, dass ihre Beine bald fertig sein würden. Eines Abends erzählte Sofia Hortensia, dass sie
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