Das Geheimnis des Feuers
weil sie Angst hatte, jemand könnte sie stehlen. Eines Abends, als sie mit ihren Beinen neben sich im Bett lag, dachte sie, sie musste jedem einen Namen geben. Wenn es so war, wie Doktor Raul gesagt hatte, dass sie ihre besten Freunde waren, mussten sie Namen haben. Sie lag in der Dunkelheit und dachte nach. Wie konnte man Beine eigentlich nennen? Nachdem sie hin und her überlegt hatte, beschloss sie, das rechte Bein Kukula und das linke Bein Xitsongo ( bedeutet »kurz« und »lang« in Sofias Sprache) zu nennen. Sie beschloss auch, niemandem zu erzählen, wie sie ihre Beine genannt hatte. Sie dachte daran, was die alte Muazena einmal gesagt hatte: Seine Geheimnisse verwahrt man am besten und sichersten, indem man sich an ein Feuer setzt und sie in die Flammen wirft. Dann sind sie für immer dort, selbst wenn das Feuer erlischt. Sie leben erneut auf, wenn am nächsten Tag ein neues Feuer aufflammt. »Das Feuer lässt dich nicht im Stich«, hatte Muazena damals vor langer Zeit gesagt. »Es bewahrt deine Geheimnisse und verrät sie nie einem anderen.«
In dieser Zeit kamen Mama Lydia und José-Maria immer seltener zu Besuch. Sie hatten viel zu tun und Sofia saß oft in der Türöffnung und wartete vergebens auf sie. Manchmal hatte Sofia solches Heimweh, dass es wehtat. Nichts war so schwer zu ertragen wie das. Wenn sie an einem Abend einmal nichts zu essen bekam, konnte sie von dem Hunger wegschlafen. Aber das Heimweh war immer da.
Hin und wieder steckte Doktor Raul ihr ein paar Geldscheine zu. Für das Geld kaufte sie sich Apfelsinen. Aber eines Tages hatte sie eine Idee. Wenn sie das Geld sparte, würde es für einen Platz in einem der alten rostigen Laster reichen, die Leute zwischen der Stadt und den Dörfern außerhalb hin- und herfuhren. Sie würde Mama und Alfredo überraschen und über ein Wochenende nach Hause fahren, wenn sie nicht ins Krankenhaus und auf ihren neuen Beinen gehen lernen musste. Sie wusste, dass sie in Boane wohnte. Wenn sie nur dort ankam, würde sie auch nach Hause finden. Sie fragte Veronica, wo die Laster abfuhren, die Leute nach Boane brachten. Damit Veronica keinen Verdacht schöpfte und ihr vielleicht verbieten würde dorthin zu fahren, versuchte sie ihre Frage so zu stellen, als ob sie an der Antwort eigentlich gar nicht interessiert wäre. Veronica erklärte es ihr und Sofia merkte sich alles genau, was sie hörte. Ungefähr eine Woche später hatte sie genügend Geld beisammen. Sie beschloss früh am Samstagmorgen aufzubrechen. Damit Veronica sich keine Sorgen machte, wollte sie einem der alten kranken Männer, die immer frühzeitig auf waren, sagen, dass sie nach Hause gefahren war und am Sonntag zurückkommen würde. Sie sparte auch ein wenig von dem Brot, das sie bekam, und versteckte es in einem Stück Papier im Bett. Die Tage vor der Reise war sie sehr aufgeregt. Was wäre, wenn sie nun in den falschen Laster stieg? Vielleicht landete sie irgendwo, von wo aus sie nicht mehr zurückfinden würde? Sie wusste auch nicht, wie lange die Fahrt dauern würde. Aber sie hatte sich entschieden. Sie musste nach Hause.
Die Nacht vor der Fahrt schlief sie schlecht. Da sie nicht wusste, wie spät es war, wusste sie auch nicht, wie lange es dauern würde, bis die Sonne aufging. Als sie nicht mehr im Bett liegen konnte, stand sie auf, befestigte die Beine und zog sich an. Vorsichtig öffnete sie die Tür zur Dunkelheit hinaus. Es war warm und windstill. Aus den anderen Zimmern, in denen die Alten schliefen, war Schnarchen und Husten zu hören. Sie setzte sich in die Türöffnung und wartete auf die Sonne. Das Geld und das Stück Brot hatte sie in einen Zipfel ihrer Capulana geknotet. In Gedanken ging sie noch einmal durch, was Veronica gesagt hatte, wie sie gehen musste um zu dem Laster zu gelangen, der nach Boane fuhr.
Endlich ahnte sie den ersten schwachen Lichtstreifen des neuen Tages. Sofort wurde eine der Türen weiter entfernt in dem langen Gang geöffnet. Ein alter Mann, der Manuel hieß und blind war, kroch heraus und setzte sich in die Tür. Es war Zeit aufzubrechen. Sofia stemmte sich mithilfe der einen Krücke auf die Beine, schloss die Tür und setzte sich in Bewegung. Als sie zu Manuel kam, grüßte sie ihn mit einem Guten Morgen und bat ihn, Veronica zu sagen, dass sie nach Hause gefahren sei.
»Sei froh, dass du ein Zuhause hast«, sagte Manuel. »Meins ist hier. Keine Familie, nichts.«
Der alte Manuel tat Sofia Leid. Sie fragte sich, was schlimmer war, mit künstlichen
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