Das Geheimnis des Feuers
fertig sind und du richtig gehen kannst. Es ist zu weit um dich jeden Tag abzuholen.«
Spät am Nachmittag holte Mariza sie ab. Sie schob sie in dem verrosteten Rollstuhl. Draußen wartete ein Auto auf sie. Sie wurde in das Auto gehoben. »Morgen seh ich dich wieder«, sagte Mariza.
Das Auto fuhr durch die Stadt. Sofia hatte Angst. Sie wusste nicht, wohin sie kam. Wenn sie nun einfach zwischen all den Menschen verschwand, sie und der Rollstuhl? Niemand würde sie wieder finden. Sie versuchte sich zu merken, welchen Weg sie fuhren. Aber die vielen Straßen der Stadt verwirrten sie. Schließlich wusste sie nicht einmal mehr, in welcher Richtung das Krankenhaus lag. Endlich bog das Auto durch ein Tor auf einen Hof ein, um den herum mehrere große Häuser lagen. Das Auto hielt an. Der Fahrer hob Sofia und den Rollstuhl heraus. »Hier wirst du wohnen«, sagte er. »Jeden Morgen wirst du von einem Auto abgeholt und ins Krankenhaus gebracht. Dort lernst du dann wieder gehen.« Das Auto fuhr davon. Sofia saß im Rollstuhl. Auf dem Schoß hatte sie eine Apfelsine, die Miranda ihr gegeben hatte. Sie sah sich um. Nirgends waren Menschen. Sie war allein. Die Sonne ging schon unter. Bald war es Nacht. Sie war verlassen.
7.
Sofia saß die ganze Nacht in ihrem Rollstuhl. Über ihrem Kopf leuchtete und flimmerte der Sternenhimmel. Hin und wieder nickte sie eine Weile ein. Sie hatte sich die Decke über den Kopf gezogen. Jedes Mal, wenn sie aus dem unruhigen Schlaf erwachte, fragte sie sich, wo sie war. Vergessen, dachte sie. Weggeworfen. Sie brauchen mein Bett im Krankenhaus. Lydia wird mich nie wieder finden. Der Rollstuhl wird in der Erde versinken.
Sofia hatte keine Angst vor der Dunkelheit. Aber sie hatte Angst, weil sie sich nicht bewegen konnte. Als es dunkel wurde, hatte sie versucht den Stuhl zu bewegen. Aber die Räder waren so verbogen, dass sie sich nicht von der Stelle rührten. Bis zuletzt hatte sie gehofft, jemand werde kommen. Aber als es dunkel wurde und die Geräusche der Stadt schwächer wurden, war ihr klar, dass sie die ganze Nacht draußen sitzen musste. Sie dachte daran, dass sie sich aus dem Stuhl rutschen lassen und unter einen der Bäume bei dem Haus kriechen könnte. Aber sie blieb sitzen. Es juckte unter den Verbänden an den Knien.
Damit sie sich nicht so allein fühlte, sang sie in der Nacht. Sie dachte, wenn sie richtig laut sang, könnte Maria unter der Erde sie hören, wo sie jetzt war. Sie sang alle Lieder, die ihr einfielen. Sie sang laut und leise, schnell und langsam, wieder und wieder. Das machte ihre Angst vorm Alleinsein kleiner. Es half auch, nicht mehr daran zu denken, was geschehen würde, wenn die Nacht vorbei war.
Sie erinnerte sich daran, wie Hapakatanda mit ihr und Maria, als sie noch ganz klein gewesen waren, manchmal abends die Sterne betrachtet hatte. Er hatte ihnen verschiedene Sternbilder gezeigt, die Tieren glichen, und sie aufgefordert, jede solle sich einen Stern aussuchen. »Für jeden Menschen gibt es einen Stern«, hatte er gesagt. »Er wird uns leuchten, solange wir leben. Wenn ihr einmal sterbt und mit euren Vorfahren lebt, verschwindet der Stern.« Sofia erinnerte sich daran, dass sie gefragt hatte, ob man auch Sterne begräbt, die vom Himmel fallen. Hapakatanda hatte sich über ihre Frage gewundert. »Darüber habe ich noch nie nachgedacht«, sagte er. »Aber das tut man bestimmt.«
Nach der langen Nacht war endlich die Dämmerung gekommen wie ein schwacher hellroter Streifen in der Dunkelheit gleich über dem Horizont. Und plötzlich war es helllichter Tag. Die Stadt war wieder zum Leben erwacht. Aus der Ferne hörte sie Busse und Autos, in einem Haus hatte jemand ein Radio eingeschaltet. Schließlich kam wirklich ein Mensch. Es war eine Frau. Sie war groß und dick. Sie blieb vor Sofias Rollstuhl stehen. »Wer bist du?«, fragte sie. »Warum sitzt du hier?«
»Ich heiße Sofia. Ich bin gestern angekommen.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Du solltest erst heute kommen«, sagte sie. »Hast du die ganze Nacht hier gesessen?« Sofia nickte. Die Frau schlug die Hände zusammen. Sie war böse. »In dem Krankenhaus geht aber auch alles durcheinander«, sagte sie. »Wie konnten sie dich bloß einen Tag zu früh abliefern?«
»Ich weiß nicht«, sagte Sofia. »Und du hast die ganze Nacht hier gesessen?«
»Ja«, sagte Sofia. »Armes Kind«, sagte die Frau. »Jetzt zeig ich dir, wo du wohnen wirst. Und dann kriegst du was zu essen. Ich heiße Veronica und ich arbeite
Weitere Kostenlose Bücher