Das Geheimnis des Feuers
die Regenzeit kommen und die Dorfwege in sumpfigen Schlamm verwandeln. Sofia dachte daran, wie schwer es dann für sie werden würde vorwärts zu kommen. Die Krücken würden im Schlamm stecken bleiben, sie könnte dann leicht das Gleichgewicht verlieren. Sie hatte den offenen Platz vor der Schule erreicht. Dort bog sie nach rechts ab. In diesem Augenblick sah sie das erste rosa Morgenlicht am Himmel im Osten. Irgendwo in der Nähe krähte ein Hahn, eine Ziege antwortete mit Meckern. Es duftete immer kräftig, wenn es gerade geregnet hatte. Sofia atmete die frische Luft tief ein, und das erinnerte sie an das Dorf, in dem sie einmal mit Maria, Muazena und Hapakatanda gelebt hatte. Sie hatte das Versprechen nicht vergessen, das sie und Maria einander gegeben hatten. Eines Tages würde sie in das Dorf zurückkehren, in dem Muazenas und Hapakatandas Geister fortlebten und auf sie warteten. Doch sie würde ohne Maria zurückkehren. Aber es würde ein Gefühl sein, als ob Maria dabei wäre.
Totio war schon wach und saß auf der Holzbank an der Nähmaschine, als Sofia auf ihren Krücken angehüpft kam. Sofia spürte eine schwache Unruhe. Vielleicht hatte er es sich anders überlegt?
Als sie herankam, nickte er ihr zu und machte Platz auf der Bank, sodass sie sich setzen konnte. Keiner sagte etwas. Verstohlen sah Sofia Totio an, der in Gedanken versunken zu sein schien. Die Nähmaschine war mit der braunen Holzhaube bedeckt. Aus der Hütte war Fernandas Schnarchen zu hören.
»Es kommt immer ein Tag, an dem sich das Leben ändert«, sagte Totio plötzlich. »Man weiß, dass es geschehen wird, trotzdem ist es eine Überraschung.« Er beugte sich über den Tisch und hob die Holzhaube ab. Dann strich er mit der Hand über die schwarze Maschine.
»Fünfunddreißig Jahre lang habe ich auf dieser Maschine genäht«, sagte er. »Wie viele Meilen Garn das sind, die sich durch die Nadel und in Hosen, Kleider, Hemden und Mützen hinein-und wieder herausgeringelt haben, das weiß ich nicht. Aber der Faden schlängelt sich durch mein Leben. Und jetzt ist es vorbei.« Sofia merkte, dass Totio traurig war. Bestimmt war es schwer, alt zu werden und nicht mehr arbeiten zu können. Aber sie fragte nicht, ob es so war. Sie sagte nichts. Die Sonne war schon aufgegangen. Totio bückte sich und hob etwas auf, das unter der Bank lag, und gab es Sofia. Es war ein Viereck aus fester, weißer Pappe. Darauf hatte jemand geschrieben: Nähatelier. Inhaberin: Sofia Alface.
»Wenn du morgen kommst, ist das Schild angebracht«, sagte Totio. »Wenn du kommst, ist mein Schild weg. Und wir sind fort, Fernanda und ich. Die Hütte gehört dir. Und die Nähmaschine. Und alle Kunden.« Sofia merkte, dass ihr Herz schneller schlug. Sie begann vor Freude zu schwitzen. So war es also. Sie sollte die Maschine und die Hütte übernehmen dürfen. Morgen. »Vergiss nicht, dass nur zufriedene Kunden wiederkommen«, sagte Totio. »Unzufriedene Kunden kommen nur einmal und dann nie mehr.«
»Ich muss noch so viel lernen«, sagte Sofia. »Ich auch«, antwortete Totio. »Man ist niemals vollendet.« Das Schnarchen in der Hütte hatte aufgehört. Und dann kam Fernanda heraus. Sie gähnte und schlang die Capulana um ihren riesigen Körper. »Ich möchte, dass du weißt, es war Fernandas Vorschlag«, sagte Totio. »Als ich spürte, dass meine Augen nachließen, sagte ich, ich wolle die Nähmaschine verkaufen. Aber Fernanda fand es besser, wenn du die Arbeit fortführst und uns hin und wieder Geld schickst.« Fernanda hatte sich auf die Bank gesetzt. Sofia war zwischen ihr und Totio eingeklemmt. »Auf einer Nähmaschine soll man nähen«, sagte Fernanda. »Die soll man nicht verkaufen.«
»Ich weiß nicht, wie ich euch jemals danken soll«, sagte Sofia verlegen. »Du sollst dich nicht bedanken«, sagte Fernanda. »Du sollst nähen.«
Sofia blieb den ganzen Tag bei Totio und Fernanda. Sie half ihnen packen. Früh am nächsten Morgen wollten sie aufbrechen. Zuerst wollten sie mit all ihren Bündeln und Körben zur Hauptstraße gehen. Dann mussten sie einen Bus nehmen, der viele Tage unterwegs sein würde, ehe er das entlegene Mueda erreichte, wo sie einmal gewohnt hatten. Im Lauf des Tages kamen viele Menschen aus dem Dorf und verabschiedeten sich. Totio redete die ganze Zeit davon, was für eine tüchtige Näherin Sofia war. Zu ihr sollten sie gehen, wenn sie etwas genäht oder geflickt haben wollten. Am späten Nachmittag sagten sie einander Lebewohl.
»Ich habe mit
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