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Das Geheimnis Des Frühlings

Das Geheimnis Des Frühlings

Titel: Das Geheimnis Des Frühlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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zu Boden, um sich setzen zu können. Ich zuckte zusammen, doch ich hatte Glück, die gestohlene Maske fiel nicht heraus. Dann wartete ich darauf, dass sie mich fragte, warum ich noch immer vollständig angekleidet war, aber ein paar Momente in dem kalten,
zugigen Raum verrieten jedem Besucher, warum es sich empfahl, auf kein einziges Kleidungsstück zu verzichten.
    Meine Mutter saß in ihrem Festtagsgewand auf dem harten Stuhl und blickte sich um. Ihr Gesicht nahm erneut einen anderen Ausdruck an. Sie wirkte gequält, sprach so stockend, wie ich es noch nie erlebt hatte. Die Umstände, unter denen ich hier gefangen gehalten wurde, schienen selbst sie zu entsetzen. »Kein Bett! Keine Scheiben in den Fenstern! Wenn ich das gewusst hätte... Ich hätte nie gedacht...« Sie richtete ihre großen grünen Augen auf mich. Zum ersten Mal lag ein flehender Ausdruck darin. »Ich bin gekommen, um dich zu bitten...« Es schien ihr Mühe zu bereiten, die richtigen Worte zu finden. »Lass dich von mir beschützen. Wenn du mir nicht gehorchst, wenn du wieder versuchst fortzulaufen, dann werden dich die, die ich im Moment noch in Schach halten kann, erneut verfolgen, und was dann geschieht...«
    Erschauernd begriff ich, dass sie von Cyriax Melanchthon sprach, dem mordgierigen Aussätzigen und Handlanger von Lorenzo de’ Medici. Während der letzten Monate hatte ich die grässliche Kreatur völlig vergessen. Zum ersten Mal überlegte ich, was mich wohl erwarten mochte, wenn mich die starken Arme meiner Mutter nicht länger schützten.
    »Ich möchte, dass du heiratest und glücklich wirst«, fuhr sie fort. »Und dass du viele Kinder bekommst. Ich habe meine Kinder nicht aufwachsen sehen dürfen...« Ihre Stimme brach, und sie wirkte mit einem Mal um Jahre gealtert.
    Ich ging weder zu ihr, noch erwiderte ich etwas darauf, aber hinter meinem maskenhaft starren Gesicht empfand ich doch einen Anflug von Mitleid mit ihr, obwohl sie sich all ihren Kummer selbst zuzuschreiben hatte.
    Sie trat zu mir. »Ich will nur dein Bestes. In dieser Hinsicht bin ich wirklich deine Vero Madre. « Fast wären meine Arme hochgezuckt, fast hätte ich sie umarmt, aber ich bezwang mich.
    Sie küsste mich, dann verließ sie den Raum.
    Ich blieb einen Moment still stehen. Es wunderte mich, dass
sie sich daran erinnerte, wie ich sie einst genannt hatte. Nur einmal hatte ich die Worte in ihrem Beisein hervorgestoßen, und zwar, als ich in Venedig neben ihr in der Gondel erwacht war, und da hatte sie über den Namen beinah gelacht. Seither hatte ich ihn nie mehr gebraucht, noch nicht einmal in Gedanken, denn der Traum, an den ich mich sechzehn Jahre lang geklammert hatte, war zerplatzt; die warmherzige, liebevolle Mutter, die ich mir immer vorgestellt hatte, hatte sich als falsches Idol entpuppt.
    Als sie ging, hörte ich weitere Schritte im Gang und war sofort wieder auf der Hut - es war die Zeit der Wachablösung. Mir gefror das Blut in den Adern; Bruder Guido wäre meiner Mutter in einem Soldatenbatallion nie aufgeefallen, aber sogar sie würde ihn sicherlich erkennen, wenn er sich in einem schmalen Gang an ihr vorbeidrängte.
    Aber nein, offenbar hatte unser kurzes Gespräch sie ebenso aufgewühlt wie mich, denn der abgelöste Wachposten verschwand, sie verschwand, und Bruder Guido - ich kannte seine Schritte inzwischen - stand vor meiner Tür.
    Ich zögerte kurz, als ich meinen Umhang und die Maske vom Boden aufhob. Mir wurde bewusst, dass ich mich von dem Moment an, da ich diesen Raum verließ, gegen meine Mutter und den gesamten Rest der Sieben stellte. Für immer und ewig, Amen. Gegen Armeen, gegen Schiffsflotten, gegen alles Silber in den Bergen und gegen einen aussätzigen Mörder, der mich tot sehen wollte.
    Aber als Bruder Guido die Zelle betrat, musste er mir nur eine Frage stellen, und ich wusste, dass ich ihm bis ans Ende der Welt folgen würde, egal welche Gefahren uns erwarteten. Wir würden sie gemeinsam durchstehen, nur das zählte für mich.
    »Bist du bereit?«
    »Ja.«
    Wie in der Nacht zuvor huschten wir die Turmtreppe hinunter. Ich nahm an, wir würden wieder den Geheimgang nach
Santa Maria Grazia nehmen und dann irgendwie versuchen, vor Tagesanbruch das Stadttor zu passieren.
    »Zu riskant«, widersprach Bruder Guido. »Zum Glück gibt es noch einen anderen Weg.«
    Wir bogen nach links ab und gelangten in einen hohen, gewölbeartigen Gang, eine Art unterirdische Straße. »Hier kann ja ein ganzes Regiment hindurchmarschieren«, staunte

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