Das Geheimnis Des Frühlings
den Raum zu verlassen.
»Wo wollt Ihr hin?«, fragte ich, von plötzlicher Panik erfüllt.
»Zur Messe«, erwiderte er. »Ganz in der Nähe gibt es eine kleine Kirche, Santa Maria della Spina. Dort wird eine Reliquie mit einer echten spina aufbewahrt.«
Ich sah ihn verwirrt an.
»Das ist ein Dorn von der Krone des gekreuzigten Christus. Ich werde davor beten und meine Sünden bereuen, so wie Er es mit seinem letzten Atemzug getan hat.« Er bedachte mich mit einem geisterhaften Lächeln und verschwand. Einen Moment lang keimte Unbehagen in mir auf; obwohl wir gestritten hatten, wollte ich nicht von meinem einzigen Freund getrennt sein, wollte nicht, dass ihm in den dunklen Straßen etwas zustieß. Sein Gerede von letzten Atemzügen machte mich nervös. Aber als ich mich im Spiegel betrachtete, vergaß ich meine Ängste.
Madonna .
Ich sah aus wie eine aus einer Anstalt entsprungene Irrsinnige. Mein Kleid, einst das beste, das ich besaß und das ich vor einer Woche angezogen hatte, um Bembo zu gefallen, war mit Schlamm und Schweiß verkrustet, und der Regen hatte die Farbe aus der billigen Seide herausgewaschen. Mein Haar sah aus wie ein Vogelnest, es stand mir vom Kopf ab, fiel struppig über Schultern und Rücken und glich nun eher Stroh als Gold. Mein schöner Pelzumhang war so zottig und fettig wie ein altes Wolfsfell, und mein Gesicht war von der Reise sonnenverbrannt - weit entfernt von dem Porzellanweiß, auf das ich so stolz gewesen war. Meine Augen glitzerten darin wie grüne Jade und wiesen einen unnatürlichen Glanz auf. Ich hätte schreien können. Wie hatte ich mit Signore Silvio anbändeln können, wo ich nicht besser aussah als eine aussätzige Bettlerin?
Ich musste etwas unternehmen. Ich presste beide Hände gegen meine Wangen, damit der Raum aufhörte, sich um mich
zu drehen, und blickte mich um. Zum Glück hatte Signore Silvio (oder vielmehr seine Diener) an alles gedacht, was eine Dame (oder... nun ja, ich) für ihre Toilette benötigen könnte. Auf dem Tisch stand eine große Kupferschüssel mit lauwarmem Wasser, in dem Rosenblüten schwammen, daneben ein Krug. Ferner fand ich einen Hornkamm von der Art, wie ihn mir Bembo einmal aus Konstantinopel mitgebracht hatte, sowie eine kleine Sandelholztruhe mit einem Dutzend winziger Schubladen, die Salben und Pasten enthielten, wie Frauen sie benutzten, um ihr Äußeres zu verschönern. Ich hatte derartige Hilfsmittel nie benötigt, aber dies war ein Notfall. Und endlich - ich klatschte vor Freude in die Hände - entdeckte ich auf der Truhe neben dem Bett ein wundervolles grüngoldenes Kleid, das dort auf mich wartete wie eine Schlangenhaut auf den passenden Körper.
Zwei Stunden später war ich ein anderer Mensch geworden.
Die erste Stunde hatte ich damit verbracht, mein Haar auszukämmen und mit Wasser auszuspülen, dann wrang ich es aus und steckte es auf, damit es trocknen konnte, während ich mich mit dem Rest von mir befasste. Als ich mein Gesicht zu waschen begann, erkannte ich bereits, dass sich die blonden Strähnen über meinen Ohren und der Stirn wieder zu Locken kräuselten. Sehr gut.
Jetzt der Körper. Ich starrte vor Schmutz und Schweiß und stank wie ein sieben Tage alter Schellfisch. Als ich zwischen meinen Beinen schnupperte, wäre ich fast in Ohnmacht gefallen. Ich benutzte das restliche Wasser und ein raues Flanelltuch, um jeden Zoll meiner sonnengebräunten Haut abzureiben, bis sie sauber und gesund schimmerte. Ich spuckte sogar auf die Perle in meinem Nabel und polierte sie, bis sie glänzte. Nachdem ich mich in das seidene Gewand gehüllt hatte, tat ich etwas, wovon ich weiß, dass ihr es abstoßend finden werdet: Ich klaubte die Rosenblüten aus meinem Waschwasser und trank es aus.
Ehe ihr jetzt verständnislos den Kopf schüttelt, hört euch
den Grund dafür an: Meine Mitbewohnerin Enna - möge Gott ihre verrottete Seele in Frieden ruhen lassen - hat mir erzählt, sie hätte einmal einen Spanier gevögelt, der gesagt hätte, wenn man zu viel Wein getrunken hätte, sollte man dieselbe Menge Wasser hinterhertrinken, dann würde man sich bald besser fühlen. Und er hatte recht, genau so war es. Er hatte Enna einen wirklich guten Rat gegeben - und ihr Filzläuse hinterlassen, aber das war ihr Problem, nicht meines.
Als die Glocke zur Vesper läutete, war ich bereit, nüchtern wie ein Mönch und machte im Spiegel eine Bestandsaufnahme meines neuen Ichs. Mein Haar fiel mir in goldenen Wellen bis zur Taille, ein paar Locken
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