Das Geheimnis Des Frühlings
jahrhundertelang die bedeutendste Religion in Rom. Sogar nach der Christianisierung hielten viele Menschen daran fest und mussten ihre Zeremonien im Geheimen, in unterirdischen Katakomben abhalten, weil sie als Ketzer verfolgt wurden.« Er bekreuzigte sich.
Ich spürte, dass er in Gedanken nicht mehr ganz bei der Sache war, und brachte ihn rasch auf unser ursprüngliches Thema zurück. »Venus ist also wie eine römische Edelfrau gekleidet.«
»Noch besser. Sie ist eine Braut.«
Ich musterte den cartone. »Woher wollt Ihr das wissen?«
»Als Junge habe ich an vielen Hochzeiten in Adelskreisen teilgenommen«, erklärte er fast entschuldigend, wohl wissend, dass ich noch nie bei einer solchen Feier zu Gast gewesen war. »Und in der Toskana ist es Brauch, dass die Braut die Hand hebt, wie Venus es hier tut, um ihre Gäste willkommen zu heißen. Außerdem trägt sie den Kopfputz und den Schleier einer römischen Braut.«
»Aber wer ist sie? Müssen wir jetzt überall in der Ewigen Stadt nach einer weiteren toten Frau suchen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Diese Frau ist ausgesprochen lebendig. Seht Euch die Farben ihrer Kleider an, sie sind leuchtend und lebhaft, nicht geisterhaft weiß, und sie hat auch keine so blasse Haut wie die Grazien. Sie lebt, da bin ich mir ziemlich sicher. Aber die Farbe ihres Umhangs ist der deutlichste Hinweis. Schaut genau hin. Wo findet sie sich noch einmal in dem Bild?«
Ich kniff die Augen zusammen. »In Merkurs Umhang!«
»Genau. Es besteht also eine visuelle, farbliche Verbindung zu der einzigen anderen Figur, von der wir mit Sicherheit wissen, dass sie noch lebt.«
»Der Maler selbst. Botticelli.«
»So ist es.«
»Wo sollen wir also anfangen?« Nervöse Unrast stieg in mir auf. Ich begann, auf der Brustwehr auf und ab zu gehen, wobei
ich mir vorkam wie ein Windhund, der es kaum erwarten kann, dass die Jagd endlich beginnt.
»Anfangen? Womit?«
»Herauszufinden, wer diese Frau ist.«
»Das erübrigt sich. Wenn ich wirklich der Erbe von Pisa wäre und kein bescheidener Mönch, dann würde ich meine gesamte Stadt darauf verwetten, dass die Frau das Ebenbild der Braut ist, die wir bald zu sehen bekommen werden. Sie trägt sogar denselben Namen wie die Straße, die uns nach Rom geführt hat. Sie ist Lorenzo di Pierfrancesco de’ Medicis Verlobte und Don Ferrantes Nichte, Semiramide Appiani.«
Der Name hallte in meinem Kopf wider, zusammen mit sich uns nähernden Schritten. Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten und kam rasch auf uns zu - der König von Neapel, Don Ferrante, war offenbar auf der Suche nach uns. »Versteckt den cartone«, zischte ich Bruder Guido zu. »Und tut so, als hätten wir uns zwecks eines Schäferstündchens hierher zurückgezogen. Für ein Liebespaar hat jeder Verständnis.«
Ich schlang die Arme um seinen Hals und presste meine Wange an die seine, weil ich wusste, dass er diesmal protestieren würde, wenn ich ihn küsste, was ich nur zu gerne getan hatte. Er spielte bereitwillig mit.
»Liebe, in der Tat«, murmelte er. Mein Herz machte einen hoffnungsvollen Satz, doch dann musste ich erkennen, dass er sich wie ein Rechtsanwalt sein bestes Argument bis zuletzt aufgespart hatte. »Venus ist die Göttin der Liebe. LIEBE heißt auf Lateinisch AMOR. Lest das Wort rückwärts, und was kommt dabei heraus?« Da er wusste, dass ich die Buchstaben nicht kannte, wartete er nicht auf eine Antwort. »R-O-M-A.«
Dann war Don Ferrante bei uns angelangt, aber mir blieb noch Zeit, Sandro Botticelli, wo immer er in diesem Moment auch sein mochte, anerkennend zuzunicken. Dieser gerissene Fuchs hatte uns die Antwort quasi unter die Nase gemalt. Amor, Roma . Ich kicherte, als der König uns begrüßte.
»Signore Niccolo, Signorina Fiametta.« Das klang äußerst
galant, aber ich vermute, dass er mich nur deshalb so nannte, weil er meinen wirklichen Namen vergessen hatte. »Ich bedauere, Euch stören zu müssen, da Euch ja nicht mehr viele gemeinsame Nächte bleiben.« Ich war mir nicht sicher, was er mit der letzten, nichts Gutes ahnen lassenden Bemerkung bezweckte, und vermutete, dass es Bruder Guido ebenso ging, aber mein Freund hatte sich in der Gewalt, er nickte nur weise.
»Aber heute Abend findet ein Schauspiel statt, das Ihr, ein gelehrter Mann wie ich selbst auch, sicherlich nicht versäumen wollt.««
»So?«, gab Bruder Guido höflich zurück.
2
Ein Glockenläuten später standen wir vor einem riesigen, im Mondlicht silbrig
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