Das Geheimnis des goldenen Salamanders (German Edition)
hatte er augenzwinkernd erklärt, während Alyss das goldene Reptil auspackte und bewunderte. »Der Salamander wird dich vor Gefahr beschützen.«
»Aber wie kann mich ein Schmuckstück beschützen?«, hatte Alyss damals ihren Vater gefragt.
»Es ist ein Amulett«, hatte er ihr erklärt. »Viele Menschen sind überzeugt, dass Amulette Glück bringen und Gefahren abwehren. Deine Mutter glaubte fest daran. Er eignet sich aber auch hervorragend als Erkennungszeichen«, fuhr der Vater fort. »Falls ihr aus irgendeinem Grund hier in Hatton Hall Hilfe braucht, dann könntest du Thomas damit nach London schicken. Ich habe mit meinem Freund Sir Christopher ausgemacht, dass er, sobald er den Salamander erhält, mit dir Kontakt aufnimmt, um dir Beistand zu leisten.« Danach drückte er ihr noch ein paar Münzen und einen kleinen Zettel mit Anweisungen in die Hand, wie man im Notfall zum Haus seines Freundes gelangte. »Aber mach dir keine Sorgen. Es wird sicher nichts passieren.«
Am nächsten Tag reiste Ralph Sinclair mit einer vollbeladenen Kutsche nach London, um von dort aus mit der Aurora in die Neue Welt zu segeln. Und seitdem hatte Alyss ihn nicht mehr gesehen.
Als dann die Schreckensnachricht eintraf, dass sein Schiff auf dem Ozean vermisst wurde, war sie zunächst wie betäubt gewesen. Selbst als der Staat Onkel Humphrey als Vormund ernannt hatte, hatte sie nicht mehr an den Salamander gedacht. Außerdem, was hätte Sir Christopher schon ausrichten können? Um ihren geliebten Vater zurückzubringen, hätte es mehr gebraucht als ein kleines goldenes Amulett. Und so geschah es, dass der Salamander unter den Dielenbrettern in Vergessenheit geriet. Bis jetzt! Eine Notsituation war eingetreten. Der Salamander musste so schnell wie möglich zu Sir Christopher nach London gebracht werden, damit der Freund des Vaters erfuhr, dass sie in Not war. Nur wer sollte das tun? Thomas war nicht mehr auf Hatton Hall. Alyss blieb nichts anderes übrig, als den Salamander persönlich nach London zu bringen. Endlich wusste sie, was zu tun war.
Alyss blickte den Salamander, der immer noch auf ihrer offenen Handfläche lag, ein letztes Mal an. Für einen kurzen Augenblick meinte sie, dass ihr die roten Rubinaugen zublinzelten, doch es war sicher nur eine Täuschung des Lichts. Dann strich sie sacht über die Rubinsplitter auf seinem Rücken, wickelte ihn in das Samtstück und steckte ihn zusammen mit den Münzen in einen Lederbeutel.
Plötzlich flackerten die Kerzen, die Tür wurde aufgestoßen. Onkel Humphrey war ohne anzuklopfen in ihr Zimmer getreten. Alyss gelang es gerade noch rechtzeitig, das Säckchen mit dem Salamander unter ihr Mieder zu stopfen.
»Hat dein Vater dir je ein Schmuckstück gegeben?«
»Ein Schmuckstück? Wieso?«, fragte Alyss. »Ich habe keinen Schmuck.«
»Und was ist das?« Der Onkel deutete misstrauisch auf die Schatulle, die noch immer offen auf dem Boden lag. Er bückte sich und leerte den Inhalt aus. Als Alyss ihre verstreuten Schätze sah, hätte sie am liebsten vor lauter Wut gebrüllt.
Der Onkel durchwühlte ihre Kostbarkeiten. Zornig kickte er schließlich die Schatulle unters Bett und verließ das Zimmer. »Wehe dir, wenn du mich anlügst!«, sagte er noch zu Alyss. Den Zettel, auf dem die Adresse von Sir Christopher stand, hatte er zum Glück nicht bemerkt.
Um Mitternacht stand Alyss vor dem fleckigen alten Spiegel in ihrer Kammer. Die anderen Hausbewohner waren längst zu Bett gegangen. Nur Alyss war noch auf, um ihre heimliche Reise nach London vorzubereiten.
»Los!«, befahl sie dem Mädchen mit den langen dunklen Locken, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte. »Mach schon.« Sie griff nach der Schere und begann zaghaft, die erste Strähne abzuschneiden. Während draußen ein Unwetter tobte, Blitze über den Himmel zuckten und es laut donnerte, fielen ihre Locken, eine nach der anderen, lautlos zu Boden. Erst als Alyss fertig war, blickte sie wieder in den Spiegel. Dort stand ein Junge im Unterkleid. Auf dem Bett lagen Hose und Wams bereit, die sie aus der Kleidertruhe der Ratcliff-Brüder gestohlen hatte. Zwar war Henrys Hose viel zu groß, doch mit dem Gürtel im letzten Loch würde sie ihr immerhin nicht von der Hüfte rutschen. Die Hemdsärmel waren zu lang und sie schlitterte in Georges alten Stiefeln herum wie auf Eis. Das Wams dagegen passte wie angegossen. Zufrieden musterte sie den Jungen im Spiegel.
»Perfekt!« Sie fuhr mit ihrer Hand durch die strubbeligen Haare, die sich
Weitere Kostenlose Bücher