Das Geheimnis des goldenen Salamanders (German Edition)
Meer die Themse stromaufwärts nach London segelten. Wahrscheinlich ankerte es an einem der Kais im Hafen von Billingsgate, gleich hinter der Brücke, wo die riesigen Handelsschiffe anlegten, um ihre Waren zu löschen – genau an der Stelle, wo auch die Aurora immer vor Anker gelegen hatte, bevor sie in See stach. Aber sie konnte sich nicht sicher sein, denn an der Themse gab es für die großen Segelschiffe noch eine Reihe weiterer Anlegeplätze. Vielleicht lagen sie auch an einem der Docks am Südufer oder sogar noch weiter flussabwärts.
Alyss, Rose mit den langen Zöpfen und die schüchterne Anne waren von den Jungen getrennt worden. Peter, Robert, John und den stummen Kleinen hatten sie seit der Nacht, in der Will geflüchtet war, nicht mehr gesehen. Wohin es sie verschlagen hatte, wussten sie nicht. Alyss seufzte. Immerhin hatte sich das Schiff seit ihrer Ankunft nicht von der Stelle gerührt. Trotzdem befürchtete sie, dass oben an Deck Vorbereitungen getroffen wurden, die signalisierten, dass es demnächst auf große Fahrt gehen würde. Schon den ganzen Tag lang drangen die gedämpften Rufe der Matrosen nach unten, die geschäftig über die Planken liefen und sich gegenseitig Befehle zuriefen.
Einige Jahre, bevor Ralph Sinclair auf See vermisst wurde, hatte er seine Tochter mit an Bord der Aurora gebracht. Er wollte ihr das Schiff zeigen, auf dem er so häufig in die Neue Welt segelte. Die Mannschaft war damals emsig damit beschäftigt gewesen, Fracht zu laden und das Schiff auf Vordermann zu bringen, denn es sollte bereits am folgenden Morgen mit der Flut in See stechen. Da wurden nicht nur Planken geschrubbt, Segel geflickt und Vorräte für die Besatzung verstaut, sondern auch Waren verschifft, mit denen der Kapitän in fernen Ländern Handel treiben wollte. Sie konnte sich noch gut an die zahlreichen Kisten, Fässer, Säcke und Stoffballen erinnern, die alle in den Laderaum geschleppt wurden. Sogar lebende Schweine und Hühner wurden an Bord geschafft, um die Seefahrer über die nächsten Wochen mit Frischfleisch zu versorgen. Auch wenn Alyss heute nicht sehen konnte, was auf dem Deck dicht über den Köpfen der drei Mädchen vor sich ging, konnte sie das Chaos hören.
Erst gegen Abend, nachdem jemand alten Zwieback durch die Luke in der Decke zu den Mädchen hinabgeworfen hatte, wurde es stiller. Man hörte nur noch gelegentliche Geräusche. Entweder hatte sich die Mannschaft bereits in ihre Hängematten zum Schlafen gelegt, oder sie hatten Landurlaub und waren von Bord gegangen, um sich in den Hafenkneipen zu betrinken. Vielleicht, dachte Alyss, sollten die drei Mädchen die Gunst der Stunde nutzen und versuchen zu entkommen. Auch wenn Alyss nicht schwimmen konnte, gab es an Bord sicher ein kleines Ruderboot, dass sie ins Wasser lassen und womit sie an Land paddeln konnten. Oder sie konnten einen Fährmann auf sich aufmerksam machen.
»Hast du immer noch die Kerze und den Zunder?«, fragte sie Rose, die dicht neben ihr hockte. Rose gab keine Antwort, doch schon gleich darauf klickte es leise, man konnte Funken sehen, dann glimmte ein Licht auf und kurz darauf war der Raum von einer Kerze erhellt.
Im flackernden Licht erkannte Alyss, dass sie richtig geraten hatte. Sie befanden sich in einem der Frachträume im unteren Deck eines Segelschiffs. Um sie herum standen Fässer, die man mit Seilen festgezurrt hatte, damit sie bei Seegang nicht hin und her rollten. Genau in der Mitte des Stauraums strebte ein dicker, runder Holzstamm nach oben zum nächsten Deck. Es handelte sich sicher um einen der Masten, die im Bauch des Schiffes verankert waren. Gleich daneben führte eine schmale Leiter zu einer Luke empor. Alyss verschwendete keinen Augenblick. Obwohl ihre Glieder vom langen Sitzen steif waren und ihr Knöchel wieder schmerzte, kletterte sie flugs die Trittbretter hoch, während Rose mit dem Kerzenstummel den Weg leuchtete. Oben angelangt, rüttelte sie an der Holzklappe und stemmte sich mit aller Kraft dagegen, doch die Luke ließ sich nicht von der Stelle bewegen.
»Himmel noch mal!« Alyss bearbeitete die Klappe wütend mit den Fäusten. »Die haben ’nen Riegel vorgeschoben.«
Rose wollte ihr nicht glauben. Sie drückte Anne die Kerze in die Hand und zwängte sich hinter Alyss die Sprossen hoch. Doch auch zu zweit schafften sie es nicht, die Luke hochzudrücken.
Einen Augenblick später hockten die drei Mädchen wieder nebeneinander auf den modrigen Planken.
»Ich blase die Kerze besser
Weitere Kostenlose Bücher