Das Geheimnis Des Kalligraphen
habe, dass unser Bund auf dem Holzweg ist. Ich hätte dich nicht hineinverwickelnsollen, sondern einfach die Dokumente verbrennen und dich als glücklichen, begabten Meisterkalligraphen weiter fördern sollen. Ich habe dich hineingezogen und bitte dich um Verzeihung.«
»Ach«, winkte Hamid ab, weil er keine Schuld seines Meisters erkennen konnte, »das sind ein paar Verrückte und du wirst sehen, wir...«
»Verrückte, Verrückte, hör doch auf damit«, unterbrach ihn sein Meister zornig. »Sie sind überall, und sie lauern uns auf. Sie lauern jedem auf, der nur einen Schritt vom vorgeschriebenen Weg abweicht, und plötzlich findet man ihn mit einem Messer in den Rippen oder erwischt ihn völlig betrunken bei einer Hure, obwohl er nie einen Tropfen Alkohol getrunken hat. In Aleppo haben sie vor etwa zwanzig Jahren einem großen Kalligraphen einen Strichjungen ins Bett gelegt, und dieser schrie beim Kadi, dass Meister Mustafa ihn mit Geld verführt hätte. Alles Lüge, aber der Richter verurteilte einen unserer besten Kalligraphen zu zehn Jahren Gefängnis. Was brauchst du noch an Beweisen, um aufzuwachen? Ibn Muqla baute eine Welt der Philosophie, Musik, Geometrie und Architektur für die Buchstaben, für die Kalligraphie. Wenn die Propheten für die Moral auf die Erde gekommen sind, so kam Ibn Muqla als Prophet der Schrift. Er machte als erster aus der Schrift eine Kunst und eine Wissenschaft. Er war für die arabische Schrift, was Leonardo da Vinci für die europäische Malerei war. Und wurde er belohnt? Er endete schlimmer als ein räudiger Hund mit abgehackter Hand und abgeschnittener Zunge. So sind wir alle zum Untergang verdammt.
Schau die Osmanen an, waren sie etwa schlechtere Muslime als wir? Niemals. Ihre Sultane verehrten Kalligraphen wie Heilige. In Kriegszeiten versteckte mancher Sultan seine Kalligraphen wie einen Staatsschatz, und in der Tat, als der Sultan Salim I. Tabriz eroberte, ließ er Mediziner, Astronomen und Architekten zurück, aber er nahm alle sechzig Kalligraphen mit, damit sie Istanbul schmücken sollten.
Sultan Mustafa Khan hielt das Tintenfass für den berühmten Kalligraphen Hafiz Osmani und bat den Meister, ihn als Schüler aufzunehmen und ihn in die Geheimnisse der Schrift einzuweihen. Habe ich direrzählt, was sein letzter Wunsch war?«, fragte Serani und lächelte, als wollte er seinen Schüler mit einer Geschichte erheitern. Hamid schüttelte den Kopf.
»Als Hafiz Osmani im Jahre 1110 starb, erfüllten ihm seine Schüler seinen letzten Wunsch. Die Holzspäne, die beim Schneiden, Schleifen und Zuspitzen der Bambus- und Schilfrohre herunterfielen, hatte er sein Leben lang sammeln lassen. Zehn große Jutesäcke waren damit gefüllt. Man sollte nun die Späne kochen und mit dem Wasser die letzte Waschung seiner Leiche durchführen.«
Serani sah seinen Lieblingsschüler traurig an. »Weißt du«, sagte er und lächelte, »als ich zwanzig war, wollte ich die Welt verändern und ein neues Alphabet erfinden, das alle Menschen gebrauchen können. Als ich dreißig wurde, wollte ich nur Damaskus retten und lediglich das arabische Alphabet radikal reformieren. Mit vierzig wäre ich glücklich gewesen, wenn ich unsere Gasse in der Altstadt retten und ein paar dringende Reformen der Schrift hätte durchsetzen können. Ich habe dir, wie du weißt, alles gegeben. Als ich sechzig wurde, hoffte ich nur noch, dass ich meine Familie rette.«
Serani weinte beim Abschied im Besucherraum und bat seinen ehemaligen Schüler noch einmal um Verzeihung, und Hamid beteuerte ihm mit pathetischer Stimme, er hege keinen Groll gegen ihn und sein Herz sei ihm gegenüber nur von Dankbarkeit erfüllt.
Gebeugt und mit schlurfendem Schritt ging der alte Meister an der Seite des Wärters hinaus. Er drehte sich um und winkte, doch Hamid fand nicht mehr die Kraft zurückzuwinken.
Ihm war elend zumute, denn er wusste nun, dass sein Meister nicht übertrieben hatte. Einiges, was ihm früher unverständlich oder absurd erschienen war, hellte sich nun auf.
»Wann aber war genau der Zeitpunkt der Wende?«, fragte er sich. Er suchte nicht lange. Der Monat vor der Eröffnung der Schule war voller Aktivitäten gewesen. Er war viel gereist, hatte für Zeitungen Artikel über die Schule geschrieben und war äußerst vorsichtig gewesen. Immer wieder hatte er die Notwendigkeit einer Reform angedeutet, aber zur Beruhigung betont, dass der Koran unantastbar bleiben müsse. Nur ein Korrespondent einer kleinen libanesischen
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