Das Geheimnis Des Kalligraphen
traf, nachdem es die Luft pfeifend durchschnitten hatte. Ihr Herz erstarrte. Weitere Schläge folgten auf ihre Beine und ihren Rücken, bis sie begriff, dass sie die Hand offen ausstrecken sollte. Sie spürte die Schläge nicht, die auf sie hagelten. Durch den Schleier ihrer Tränen sah sie, dass die ganze Klasse wie versteinert war. Einige Mädchen weinten laut und baten den Lehrer aufzuhören, aber das tat er erst, als er keinen Atem mehr bekam.
Zu Hause bekam Nura Schelte von ihrer Mutter, doch der Vater nahm seine Tochter in Schutz. Sadati sei ein Esel, meinte er, und kein Lehrer. Er kenne ihn, seinen Vater und seinen Onkel, eine Herde von Eseln. Nura atmete erleichtert auf.
»Ich hasse ihn«, sagte sie ihrem Vater. »Ich hasse ihn ... «
»Nein, mein Kind«, sprach ihr Vater ruhig, »Gott mag keine Hasser,nur Liebende schützt er mit seiner grenzenlosen Gnade. Hab Mitleid mit Sadatis unterentwickeltem Hirn. Er hat den falschen Beruf ergriffen, das ist schlimm genug für ihn.«
Ein Jahr später verschwand der Lehrer. Er hatte sich an einer Schülerin der sechsten Klasse ausgetobt, nicht ahnend, dass deren Vater ein hoher Offizier des Geheimdienstes war. Das Kultusministerium versetzte den Lehrer in den Süden. Für Sadati eine Katastrophe, denn wenn er etwas hasste, so waren es die Bauern des Südens.
Nura durfte die Schule nur bis zur mittleren Reife besuchen, bis zum Abitur war eine andere Schule zuständig. Und dagegen rebellierte die Mutter. Mit Krankheit und Tränen zwang sie den Vater in die Knie. Sie drohte sich umzubringen, wenn man sie weiter mit der Angst um Nura quälen würde.
Was eine Frau zum Leben brauche, sei nicht Wissen, sondern einen Mann, der ihr Kinder machte, und wenn sie etwas nähen und kochen und seine Kinder zu guten Muslimen erziehen könne, sei das mehr, als man von ihr erwarten könne.
Ihr Vater gab nach. Das war der erste Sprung in Nuras Vertrauen in ihn, und bis zu ihrer späteren Flucht vermehrten sich die Risse. Vertrauen ist zerbrechlich wie Glas, und wie dieses kann man es nicht reparieren.
Die Mutter war begeistert von dem Gedanken, dass Nura Schneiderin werden würde, also musste sie mit fünfzehn bei der Schneiderin Dalia lernen, deren Haus im selben Viertel in der Rosengasse lag.
Fast zur selben Zeit zog eine neue Familie in das übernächste Haus ein. Der alte Besitzer war zwei Jahre davor gestorben, und seine Witwe verkaufte das Haus und zog zu einer Nichte in den Norden. Der neue Besitzer arbeitete beim Elektrizitätswerk. Er hatte eine kleine, sehr freundliche Frau und vier Jungen, die viel Lachen in die Gasse brachten, denn sie standen oft vor der Haustür und scherzten. Sie waren Muslime, spielten aber ungeniert mit den Christen und verstanden sich mit ihnen. Nura gegenüber waren sie von Anfang an sehr höflich, sie fühlte sich zu ihnen hingezogen. Sie scherzte mit ihnen und hörte gerne ihren abenteuerlichen Geschichten von Afrika zu. Sie hatten viele Jahre in Uganda gelebt, und als ihre Mutter es nicht mehr aushielt,hatte ihr Mann seine lukrative Stelle gekündigt und war nach Damaskus gekommen. Seitdem die Mutter Damaszener Boden betreten habe, sei sie keinen Tag mehr krank gewesen.
Vor allem der zweitälteste Sohn, Murad, gefiel ihr. Er roch immer besonders gut, und wenn er lachte, hatte Nura Sehnsucht nach einer Umarmung.
Ein halbes Jahr später gestand er ihr, dass er sich gleich am ersten Tag in sie verliebt habe. Murad war vier, fünf Jahre älter als sie. Er war fast so schön wie Tamim, und sie spürte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder, dass ihr Herz beim Anblick eines jungen Mannes Tänze in ihrem Brustkorb aufführte.
Einmal, als die Eltern nicht zu Hause waren, wagte sie es, ihn hinter der Haustür zu treffen. Nura legte zwei Zwiebeln in eine Papiertüte. Sollten ihre Eltern unerwartet früh zurückkommen, würde Murad die zwei Zwiebeln nehmen, derentwegen er angeblich gekommen war, sich höflich bedanken und gehen. Im dunklen Korridor konnten sie jeden Schritt auf der Gasse hören. Sie zitterten vor Aufregung, als Nura zum ersten Mal einen langen Kuss auf ihren Lippen fühlte. Murad war erfahren. Er berührte auch ihre Brüste und versicherte ihr gleichzeitig, dass er nie etwas Unmoralisches mit ihr machen würde.
»Das darf eine Frau nicht vor der Hochzeit«, sagte er. Sie fand das absurd und lachte.
Beim nächsten Treffen knöpfte er ihr Hauskleid auf und saugte an ihren Brustwarzen. Sie fühlte eine Gänsehaut und konnte kaum noch
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