Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
zitterte am ganzen Körper. Ihre Ablehnung gegenüber diesem Mann hatte sich in Angst verwandelt.
»James, bitte bring mich von hier weg. Ich möchte nach Hause«, flehte sie ihren Begleiter an, obwohl sie Sorge hatte, er würde sie für überspannt halten. »Bitte versteh das, der Kerl ist mir unheimlich.«
»Das kann ich sehr gut verstehen, mein Liebes. Was fällt dem guten Charles eigentlich ein? Na warte, das wird ein Nachspiel haben«, flüsterte er ihr zu und nahm sie zärtlich in den Arm. Unauffällig verließen sie den Saal.
Erst draußen vor der Tür fand Antonia ihre Sprache wieder. »Was hat er wohl gemeint, dieser Wayne? Wovon spricht er? Was weiß er von meiner Mutter? Woher kennt er sie?«
James zuckte bedauernd mit den Schultern. »Das wüsste ich auch gern, aber erst einmal musst du mir verzeihen. Nur weil ich dich derart überfallen und als meine zukünftige Braut vorgestellt habe, hat sich der gute Charles von seiner schlechtesten Seite gezeigt. Und du hast wirklich keinen Schimmer, was er mit seiner garstigen Andeutung meinen könnte?«
Antonia seufzte tief. »Nein, ich habe den Namen Wayne noch niemals aus dem Mund meiner Mutter gehört.«
»Hat sie ihn vielleicht gekannt, bevor sie deinen Vater geheiratet hat und zu ihm nach Otahuna gegangen ist?«
»Mein Vater hat niemals auf Otahuna gelebt. Er starb bei der Überfahrt meiner Eltern von England nach Neuseeland. Kurz vor dem Ziel hat sein Bruder ihn über Bord gestoßen, um sein Vermögen an sich zu bringen.«
»Um Himmels willen. Das ist ja eine gruselige Geschichte. Gut, dass ich das weiß. Wenn du das Mutter bei Tisch erzählt hättest, wäre sie tot umgefallen. Ein Mörder in deiner Familie. Das sollten wir ihr lieber verschweigen. Sie ist nämlich stets um den guten Ruf der Familie besorgt. Und wie ist deine Mutter dann an Otahuna gekommen, wenn sie es nicht von deinem Vater geerbt hat?«
»Sie hat es von einer alten Frau geerbt, die selbst keine Kinder hatte«, erwiderte sie. »Aber ich bin es leid, dass mich alle ausfragen. Und wenn es dir peinlich ist, dass mein Onkel ein Verbrecher war, dann heirate doch lieber Patricia Wayne. In deren Familie gibt es sicherlich nicht solche schwarzen Schafe«, fügte sie gereizt hinzu.
»Das würde ich nicht mit gutem Gewissen behaupten wollen. Bevor ihr Großvater, der übrigens einst dieses scheußliche Haus entworfen hat, sein eigenes Anwesen auf dem grünen Hügel in Macandrew Bay verkaufen musste, weil sein Vermögen aufgebraucht war, hat er es lieber angezündet.«
»Das ist ja entsetzlich!«, entfuhr es Antonia.
»Ja, er hat die Schmach nicht ertragen, plötzlich nicht mehr dazuzugehören. Und deshalb ist er im Haus geblieben. Er hat sich betrunken in sein Bett gelegt, um mit dem Haus unterzugehen. Seine Frau ist kurz darauf vor Kummer gestorben.«
»Tut mir leid, dass ich dich so angefaucht habe«, seufzte Antonia, »aber du musst verstehen, das war heute alles ein wenig viel für mich. Und diese gemeinen Andeutungen über meine Mutter gehen mir schreckliche nahe. Es ist nicht so einfach, ohne Vater aufzuwachsen. Das kannst du mir glauben.« Ihre Augen wurden feucht.
»Du hast recht, Liebling. Ich höre jetzt auch auf damit. Nicht weinen. Jetzt hast du mich, und ich werde dich in Zukunft beschützen.« Sanft zog James Antonia an sich. Seine Lippen suchten ihren Mund. Erst vorsichtig, dann immer leidenschaftlicher küssten sie sich. Nachdem sich seine Lippen von ihren gelöst hatten, raunte er zärtlich: »Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch«, erwiderte sie mit bebender Stimme. So hatte sie sich in ihren schönsten Träumen die Liebe vorgestellt. Und doch breitete sich schleichend ein unbestimmtes Gefühl der Angst in ihr aus. Sie versuchte, sich Charles Waynes Worte noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, aber es gelang ihr nicht. Sie zuckte allein bei dem Gedanken an seinen gehässigen Ton zusammen, doch James legte schützend den Arm um sie und brachte sie zu einer Kutsche.
»Wir lassen uns zum Haus meiner Tante bringen, und ich fahre dich mit dem Wagen nach Otahuna. Und dann warte ich, bis deine Mutter kommt, um bei ihr um deine Hand anzuhalten. Ich werde Otahuna nicht verlassen, bevor sie uns ihren Segen gibt«, erklärte er.
Als sie schließlich in dem Wagen durch die kalte Nacht fuhren, kuschelte sich Antonia ganz dicht an James heran.
Nur mit Mühe hatte Selma den letzten Zug aus Alexandra erreicht, der nun in den Bahnhof von Waikouaiti einfuhr. Sie hatte nur noch
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