Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
Einzige, was ich von Moira jede Woche bekomme, ist das da.«
Verächtlich zog sie einen Stapel Postkarten aus einer Kiste.
»Sie kommen alle aus Invercargill.«
»Meinen Sie, sie lebt dort?«
»Und wenn schon. Sie glauben doch nicht, dass ich mich auf die Suche nach meiner verrückten Schwester mache, oder? Sie hat mich verlassen. Aber vielleicht nützt Ihnen das etwas. Nehmen Sie einfach eine mit.«
»Oh, vielen Dank!«, sagte Grace und griff sich zögernd eine Karte.
»Und wo liegt dieses Invercargill?«
»Ganz am südlichen Zipfel, wo keine Robbe begraben sein möchte.«
»Darf ich die Karte lesen?«
»Warum nicht? Steht doch immer dasselbe Blabla darauf.«
Grace drehte die Karte um, überflog den nichtssagenden Text, doch dann erstarrte sie. Es grüßen dich Moira und Alma.
»Wer ist Alma?«, fragte Grace tonlos.
»Ich nehme mal an, dass Alma die Frau ist, mit der Moira zusammenlebt, denn alle Karten sind so unterschrieben. Moira und Alma.«
Enttäuscht ließ Grace die Karte sinken. »Gut, dann werde ich mal gehen. Entschuldigen Sie, dass ich hier so reingeplatzt bin, aber ich befürchte, dass ich auf der falschen Fährte bin. Meine Mutter heißt anders.«
»Schade. Ich hätte Ihnen gegönnt, dass sie fündig werden. Aber nur, weil Sie einen verzweifelten Eindruck machen und nicht so unverschämt auftreten wie diese aufdringliche Frau. Der hätte ich niemals einen Hinweis gegeben, obwohl sie mir sogar Geld geboten hat.«
Grace hörte der alten Dame gar nicht mehr zu. Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Die Frau hieß Alma, nicht Deborah!
»Und sagt Ihnen der Name Deborah Albee vielleicht etwas?«
»Nein, noch nie gehört«, erwiderte Maureen entschieden.
»Ihre Schwester soll einmal eine Freundin von ihr gewesen sein.«
Maureen zuckte bedauernd mit den Schultern.
Und wenn meine Mutter nun ihren Namen geändert hat?, durchfuhr es Grace eiskalt. In ihr wuchs langsam, aber sicher der Verdacht heran, dass hinter der Frage ihrer Herkunft ein finsteres Geheimnis lauerte, das vielleicht besser doch nicht gelüftet werden sollte.
Dunedin, Dezember 1918
Antonia war überglücklich, als sie in Dunedin aus dem Zug stieg. Die Sonne strahlte vom Himmel, und sie atmete den Duft der Freiheit tief in jede Pore ein. Es war ein Segen, dass sie endlich einmal einen triftigen Grund gefunden hatte, dem strengen Regiment ihrer Mutter zu entfliehen. Selma hütete zwar die meiste Zeit das Bett, aber es ging ihr jedes Mal um ein Vielfaches schlechter, wenn Antonia versuchte, sich ein wenig Eigenleben zu verschaffen. Und gegen die alten Knochen hatte ihre Mutter nun wirklich nichts Vernünftiges vorbringen können. Voller Stolz trug Antonia ihren Koffer zur Droschke.
»Zum Southern Cross Hotel«, sagte sie und ließ es sich nicht nehmen, den Koffer eigenhändig in den Wagen zu hieven.
Der chinesische Droschkenkutscher lachte. »Flau machen alles selbel. Haben Schatz in Koffel?«
Antonia grinste. »Genau, und was für einen Schatz!«
Als sie vor dem Hotel hielten, gab sie ihm reichlich Trinkgeld. Während sie die Lobby durchquerte, verrenkten sich einige der anwesenden Herren die Hälse nach der grazilen, nicht mehr jungen Schönheit, die ein seliges Lächeln auf den Lippen hatte. Sie aber bemerkte die Blicke der Männer kaum, war sie doch zu sehr in ihr Glück versponnen. Es grenzte an ein Wunder, dass dieser Professor Evans sie wirklich treffen wollte. Und daran, dass sie die Blicke der Männer auf sich zog, wo auch immer sie sich aufhielt, hatte sie sich mit den Jahren gewöhnt. Das war nicht anders, wenn sie sich in den Straßen von Oamaru bewegte. Vor Verehrern konnte sich Antonia kaum retten, obwohl sie die dreißig bereits überschritten hatte. Das änderte allerdings nichts an ihrer jungmädchenhaften Ausstrahlung. Man schätzte sie in der Regel höchstens auf Mitte zwanzig. Das amüsierte sie. Wenn die Herren der Schöpfung ahnen würden, dass sie auf dem besten Wege war, eine alte Jungfer zu werden. Keiner dieser Herren hatte es jemals geschafft, ihr Herz auch nur annähernd zu erobern. Das gehörte immer noch dem einen, dem sie vor nunmehr sechzehn Jahren Lebewohl gesagt hatte. Doch selbst wenn sie sich in einen der Kavaliere verlieben würde und der überdies ernste Absichten hätte, er würde sich in den Mauern der Kalksteinvilla in Oamaru, die Antonia Harata gegenüber stets spöttisch als die Festung des Todes bezeichnete, eine Abfuhr holen. Selma war strikt dagegen, dass
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