Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
sich ihre Tochter auf eine Liebschaft einließ. Wie sagt sie noch immer?, fragte sich Antonia amüsiert, während sie auf die Rezeption zutrat. Ach ja, die Männer schwängern dich und lassen dich dann sitzen. Sie wusste zwar nicht, woher ihre Mutter solche Binsenweisheit nahm, aber Selmas Wort war in der Festung Gesetz.
»Professor Evans hat ein Zimmer für mich reserviert«, sagte Antonia, und ihr Herz klopfte vor Freude. Ein Zimmer für sich allein weit weg von ihrer Mutter. Etwas Schöneres konnte sie sich gar nicht vorstellen. Lächelnd nahm sie den Schlüssel entgegen und ließ sich von dem Pagen, der den Koffer trug, zu ihrem Zimmer führen.
Es ist das beste Haus am Platz, hatte der Professor ihr geschrieben. Sie lächelte in sich hinein. Wie sollte er auch ahnen, dass sie Dunedin aus ihrer Jugend kannte und sehr wohl um den guten Ruf des Hotels wusste, obwohl sie es noch nie zuvor von innen gesehen hatte. Es war jedenfalls prächtiger, als sie es sich in ihrer Fantasie vorgestellt hatte. Das Zimmer geräumig und hell, die Möbel ganz im englischen Stil gehalten, mit einem großen Fenster nach hinten hinaus, das einen Blick auf den wunderschönen Garten gewährte.
Antonia drehte sich ein paarmal übermütig im Kreis. Sie genoss es, ihre eigene Herrin und endlich einmal wieder in Dunedin zu sein. Und sie fand es wunderbar, wie eine richtige Lady behandelt zu werden und nicht wie eine alternde Tochter. Schließlich gab sie dem Pagen, der sie verwundert musterte, ein üppiges Trinkgeld und ließ sich kichernd auf das Bett fallen. Wie wunderbar weich es doch war! Ein Blick auf ihre Uhr zeigte ihr, dass ihr noch eine gute Stunde blieb, bis der Professor sie aufsuchte, um ihren Schatz zu begutachten, bevor er sie anschließend zum Essen in das Hotelrestaurant ausführen wollte.
Mit hochroten Wangen öffnete sie den Koffer und holte zunächst die Knochen hervor. Einen nach dem anderen fasste sie behutsam an wie ein kostbares Schmuckstück und dekorierte ihn auf dem Tisch. Besonders stolz war sie auf den großen Knochen, der kaum in ihren Koffer gepasst hatte. Ob es wirklich der Unterschenkelknochen eines Moa war? Wenn, dann würde sie es jedenfalls bald erfahren. Den allergrößten Knochen hatte sie zu ihrem großen Bedauern nicht transportieren können, aber sie hatte ihn dem Professor in einem Brief ausführlich beschrieben. Wenn er vom Moa stammte, dann von seinem Oberschenkel.
Antonia erinnerte sich voller Stolz an den Tag vor vielen Jahren, an dem sie wieder einmal aus der Festung des Todes in das Strandhaus geflüchtet war. Ihre Mutter hatte, wie so oft, einen schlechten Tag und an allem etwas auszusetzen gehabt. Vor allem daran, dass sie, Antonia, zum ersten Mal seit damals auf James Henson zu sprechen gekommen war. Die Reaktion ihrer Mutter war ein würgender Hustenanfall gewesen, als wolle sie ihr vorwerfen, dass sie seinen Namen überhaupt in den Mund genommen hatte. Und als ihre Mutter wieder Luft bekommen hatte, hatte sie theatralisch ausgerufen: »Willst du mich umbringen?« Woraufhin Antonia aus dem Zimmer geeilt und nach Bushy Beach gefahren war.
Ein wenig mehr Dankbarkeit hätte Antonia sich schon von ihrer Mutter gewünscht, denn schließlich hatte sie ihretwegen auf ein eigenes Leben und die große Liebe verzichtet. Deshalb war sie so glücklich gewesen, als sie an jenem Tag die Knochen gefunden und damit endlich etwas spannendes Eigenes entdeckt hatte. Sie hatte vom Strandhaus aus einen langen Spaziergang auf die Ebene unternommen. An jede Einzelheit dieses denkwürdigen Tages erinnerte sie sich, als wäre es gestern gewesen: die merkwürdige Entdeckung am Waldrand. Was für große Knochen, und dann der Schreck, es könne sich um menschliche Überreste handeln. Der kleine Schädel schließlich, der eindeutig von einem Vogel stammte, ließ sie erleichtert aufatmen. Rasch hatte sich ihr die Frage aufgedrängt: Wie passen die großen Knochen mit dem kleinen Kopf zusammen? Antonia hatte sich daraufhin an das Buch über den straußenähnlichen Urvogel Neuseelands erinnert, das ihr erst jüngst in die Hände gefallen war. Mit pochendem Herzen hatte sie die Knochen unter Ästen und Gestrüpp versteckt und war am nächsten Tag mit Peter Stevensen zurückgekehrt, um ihren Fund mit seiner Hilfe nach Oamaru zu bringen. Dann war sie in die Bibliothek gefahren und dort auf die Werke von Richard Owen und Julius Haast über den Moa gestoßen. Jahrelange Studien folgten. Plötzlich hatte ihr Leben einen Sinn
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