Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
sie zu finden.«
»Wen?«, fragte Grace scharf und fixierte Suzans gesundes Auge.
»Deine Mutter.«
»Du hast mich hergelockt, damit ich für dich meine Mutter finde? Was geht nur in deinem kranken Hirn vorn? Ich bete, dass wir nicht verwandt sind, denn du bist irrsinnig!«
»Bitte, Grace, lass mich dir die Geschichte zu Ende erzählen ...«
»Ich will keine Geschichten! Ich will die Wahrheit!«, schrie Grace außer sich vor Zorn.
»Ich ... ich will sie dir doch nicht vorenthalten!«
»Dann sagst du mir jetzt auf der Stelle, was wir beide miteinander zu tun haben und warum deine Geschichte angeblich auch meine Geschichte ist! Keine Ausflüchte mehr! Ich zähle bis drei. Dann bin ich weg, und du wirst mich nie wieder sehen ...«
»Später«, erwiderte Suzan heiser. Sie schien plötzlich verzweifelt und den Tränen nah.
Grace wunderte sich darüber, warum diese unnahbare Frau auf einmal so verletzlich wirkte, aber sie empfand keinerlei Mitleid. Zu tief hatte es sie getroffen, dass Suzan sie offensichtlich für ein gemeines Spiel missbrauchte, dessen Regeln sie nicht kannte, geschweige denn verstand. Sie drückte sich schweigend an der Professorin vorbei.
»Bleib doch! Bitte sag, was du von mir möchtest«, flehte Suzan, doch Grace blieb ihr eine Antwort schuldig. Ich habe ihr gesagt, was ich von ihr will. Mehr kann ich nicht tun, dachte sie. Schnellen Schrittes durchquerte sie die Halle. An der Haustür blieb sie abrupt stehen. Ich werde gehen, aber nicht, ohne Antonias Geschichte mitzunehmen, schoss es ihr durch den Kopf. Wenn es auch meine Geschichte ist, gehört sie mir! Vorsichtig drehte sich Grace um. Suzan war fort. Leise stellte Grace ihren Koffer ab und schlich sich in den Keller. Ihr war nicht ganz wohl, aber sie hatte keine andere Wahl. Auf Zehenspitzen ging sie zur Tür des Ausstellungsraums und drückte vorsichtig die Klinke hinunter. Glücklicherweise wusste sie bereits blind, wo sich der Lichtschalter befand. Der Raum wurde sofort in ein sanftes Licht gehüllt. Zielstrebig steuerte Grace auf die Vitrine mit der Geschichte zu, griff sich Antonias Heft und stopfte es in ihre Laptoptasche. Ihr war mulmig zumute, sie fühlte sich wie eine Diebin, und sie ärgerte sich darüber, dass sie Suzan trotz allem, was inzwischen vorgefallen war, nicht ohne schlechtes Gewissen hintergehen konnte. Ich habe diese Frau in mein Herz geschlossen, dachte Grace verzweifelt. Sie verstand es ja selbst nicht, aber wenn nicht diese seltsame Geschichte zwischen ihnen stehen würde, sie hätten echte Freundinnen werden können. Aber sie steht nun einmal zwischen uns, dachte Grace bedauernd, sie hat gewollt, dass ich meine Mutter finde. Warum? Egal, Suzan hatte kein Pardon verdient. Diese Frau konnte keine ehrlichen Absichten hegen. Warum sagte sie ihr sonst nicht einfach, ob und in welcher verwandtschaftlichen Beziehung sie zueinander standen?
Trotzdem, Grace konnte sich nicht helfen. Als sie schließlich mit Antonias Geschichte aus dem Haus schlich, fühlte sie sich wie eine Einbrecherin.
Kaum hatte sie einen nahe gelegenen Park erreicht, konnte sie ihre Neugier nicht länger zügeln. Sie setzte sich auf eine Bank und holte beinahe ehrfürchtig das Schulheft hervor. Ein bisschen war es so wie damals, als sie sich einmal Claudias Tagebuch »ausgeliehen« hatte. Dabei war es ganz langweilig gewesen. Sie hatte nur über Ethan geschrieben und ihn so verklärt, dass Grace hatte schmunzeln müssen. Damals, als sie noch geglaubt hatte, dass die beiden ihre Eltern waren.
Mit zittrigen Fingern schlug sie das Heft auf. Das Geheimnis des letzten Moa. Ein Märchen von Antonia Evans, gewidmet meinem geliebten Mann Arthur und unserer Tochter Barbra, stand dort in einer schnörkeligen, aber gut leserlichen Frauenhandschrift geschrieben. Grace holte noch einmal tief Luft, bevor sie sich in das Märchen vertiefte.
Tuia, das Moa-Mädchen, weinte bitterlich, als es seine Mutter hilflos am Boden liegen sah. Wie der Blitz war ein Speer durch die Luft geschwirrt und hatte den großen Laufvogel niedergestreckt. Blut tropfte aus dem gewaltigen Leib des Vogels. Vergeblich versuchte das Mädchen mit seinem Schnabel, die Spitze aus dem dichten Federkleid zu ziehen.
»Hör gut zu, kleine Tuia. Brette dich!«, röchelte die Mutter. »Sei nicht traurig. Kümmere dich nicht um mich, sondern mach dich auf und versteck dich in den Wäldern, denn dort bist du sicher. Dort lebt der Rest der Unseren in seinen Verstecken. Ich bin nicht deine Mutter.
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