Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
schläfst bei mir im Zimmer.«
Die Freundin aber hörte ihr gar nicht mehr zu. Sie starrte gebannt auf einen Neuankömmling. »Und wer ist das? Dein Bruder?«, fragte sie sichtlich angetan.
Barbra zuckte mit den Schultern, obwohl sie bereits ahnte, wer der große junge Mann mit dem roten Haar und den geröteten Wangen war. Er sieht aus wie ein waschechter Schotte, schoss es ihr durch den Kopf.
»Stell ihn mir vor«, verlangte Helen, als der Hüne auf Barbra zusteuerte und sie von Kopf bis Fuß musterte.
»Du bist also auch meine Cousine, hat mir Großvater gerade gesagt. Und ich bin Alexander, ein Bastard der Familie Wayne.« Er hielt ihr zur Begrüßung seine kräftige Hand hin.
Barbra wusste nicht, was sie von diesem jungen Mann halten sollte, als er sich zu ihr hinunterbeugte und ihr ins Ohr flüsterte: »Du siehst umwerfend aus. Schenkst du mir einen Tanz?«
Erst in diesem Augenblick nahm Barbra die Kapelle wahr, die ihr Vater für sie bestellt hatte und die nun einen Swing spielte.
»Darf ich bitten?«, fragte Alexander. Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern zog sie an der Hand auf die Tanzfläche. Sie fand sein Benehmen ziemlich unverschämt, aber er tanzte hervorragend. Das hielt sie davon ab, ihn einfach auf der Tanzfläche stehen zu lassen.
»Nenn mich Alex, und wie heißt du?«, raunte er ihr beim Tanzen ins Ohr.
»Barbra«, erwiderte sie hastig. Sie hatte ein merkwürdiges Gefühl. So, als ob sie beobachtet würde. Und als sie zum Rand der Tanzfläche sah, wusste sie, warum sie sich so unwohl fühlte. Da war er wieder, der hasserfüllte Blick ihrer Ziehschwester. Dachte Norma etwa, sie wollte ihr den Mann ausspannen? Mitnichten. Der rotgesichtige Alex interessierte Barbra nicht im Geringsten. Sie sehnte sich nur nach dem einen: nach Thomas Leyland; doch sosehr sie auch auf ihn wartete, er kam an diesem Abend nicht und ließ auch in den folgenden Monaten nichts von sich hören.
Milton, März 1937
Wenn Barbra auf das vergangene Jahr zurückschaute, wurde sie nur noch missgelaunter. Alles, woran sie sich erinnerte, war, dass sie ständig versucht hatte, Alexanders Annäherungsversuche abzuwimmeln, und dass Norma immer schmallippiger geworden war. Und natürlich an ihren Kummer darüber, dass sie gezwungen gewesen war, sich Thomas Leyland aus dem Herzen zu reißen. Helen hatte ihr nämlich eines Tages unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, dass er inzwischen mit ihrer älteren Schwester Julia zusammen war. Also hatte ihre Mutter Recht behalten. Ein Mann wie er wartete keine zwei Jahr auf ein kleines Mädchen wie sie.
Wenn ich wenigstens Norma zum Reden hätte, dachte sie wehmütig, während sie in das grüne Kleid schlüpfte, das ihr James zu ihrem heutigen siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Aber ihre Stiefschwester war geradezu besessen von dem Gedanken, sie würde sich für Alexander interessieren. Mehrfach hatte Barbra ihr geschworen, dass sie sich nicht das Geringste aus ihm machte, und dann war Norma ausgerechnet in dem Moment dazugekommen, als Alex lautstark von Barbras wunderschönen Augen geschwärmt hatte. Da war es endgültig vorbei gewesen mit ihrer Freundschaft, und Barbra war nur noch einsamer geworden.
James versuchte zwar ständig, sie aufzuheitern, aber sie wurde das Gefühl nicht los, langsam genauso trübsinnig zu werden wie ihre Schwester. Das Einzige, was sie erfreute, war die Tatsache, dass der alte Wayne bettlägerig geworden war und sie nicht täglich seinen abweisenden Blick ertragen musste. Sie konnten einander nicht leiden. Daran hatte sich nichts geändert. Und jeder im Hause Henson wusste es.
Gelangweilt sah Barbra in den Spiegel. Gut, das Kleid steht mir ausgezeichnet, und ich bin inzwischen zu einer richtigen Frau herangereift, stellte sie teilnahmslos fest, doch wofür und, vor allem, für wen putze ich mich so heraus? Damit Alex mir wieder unverblümt Avancen macht? Dabei wusste sie eines genau: Wenn er der einzige Mann sein würde, der ihr je einen Antrag machte, würde sie lieber zur alten Jungfer werden. Davon abgesehen, dass sie ihn nicht besonders attraktiv fand, mochte sie sein Wesen nicht. Sie hatte ständig Sorge, dass er etwas Unrechtes im Schilde führte. Außerdem trank er und prügelte sich gern. Was Norma nur an ihm fand?
Barbra hatte jedenfalls gar nicht feiern wollen, doch James wollte unbedingt ein Essen für sie geben. Was soll das schon werden?, dachte Barbra trübsinnig. Alexander wird mich mit seinen Blicken
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