Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
mache einen so zarten und hilfsbedürftigen Eindruck. Ganz im Gegensatz zu ihrem Wesen, hatte er stets grinsend hinzugefügt. Ich kenne keine Frau, die dermaßen zäh ist und anpacken kann wie du, mein Liebling. Schon bei dem Gedanken an seine zärtlichen Worte, die sie nie wieder würde hören können, schluckte Selma trocken.
Um sich abzulenken, stand sie auf, wanderte im Zimmer umher und blieb vor der Waschkommode stehen. Über ihr hing ein Spiegel. Sie riskierte einen Blick und war erstaunt. Sie hatte vermutet, einer Vogelscheuche ins Gesicht zu blicken, aber es war alles halb so schlimm. Durch die Aufregung der letzten Stunden hatten ihre Wangen wieder ein wenig Farbe bekommen und ihre Augen einen lebendigen Glanz. Ob das auch an der Gesellschaft dieses Mister Wayne lag? Zugegeben, der Mann besaß eine vornehme Ausstrahlung, trug einen feinen Zwirn und hatte hervorragende Manieren. Ein feiner Mann, aber durfte sie ihm vertrauen?
Ein Geräusch an der Tür ließ sie zusammenfahren, aber als sie sah, dass es Mister Wayne war, entspannte sie sich. Ja, sie sollte ihm vertrauen. Wenn nicht ihm, wem dann? Außerdem hatte sie keine Wahl.
»Wird Mister Piwi mich in Sicherheit bringen?«, fragte sie mit bemüht fester Stimme.
Mister Wayne schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, Sie müssen mit meiner Gesellschaft vorliebnehmen und am besten hierbleiben, bis Ihr Verlobter abgereist ist.«
»Er ist nicht mein Verlobter!«, fauchte Selma wütend. »Entschuldigen Sie, es tut weh, wenn das jemand behauptet. Er ist mein Schwager«, fügte sie versöhnlich hinzu.
»Dann sind Sie also verheiratet?«
Klang da etwa Enttäuschung mit?
Selma straffte die Schultern. Allerdings musste sie noch ein paarmal schlucken, bevor sie ihm überhaupt antworten konnte. Sie wollte auf keinen Fall in Tränen ausbrechen. »Ich, nein, ich ... mein Mann ist letzte Nacht über Bord gegangen, und ich befürchte, dass sein Bruder etwas mit seinem Tod zu tun hat.«
»Das tut mir sehr leid für Sie. Aber wir müssen sofort zur Polizei gehen«, entgegnete Mister Wayne erschrocken.
»Nein, er wird den Verdacht auf mich lenken. Kein Mensch würde mir je glauben, dass ich mit Wills Tod nichts zu tun habe, denn er und ich hatten vor seinem Verschwinden einen heftigen Streit. Richard hat uns beobachtet, aber der Polizei hat er erzählt, dass ich die ganze Nacht in der Kajüte war. Und er hat behauptet, dass er ebenfalls die ganze Nacht dort verbracht hat. Das ist nicht wahr. Er hat unseren Streit beobachtet, war also ebenfalls an Deck. Überdies gibt es einen Zeugen, der eine Frau hat flüchten sehen. Ich habe bei der Vernehmung nicht richtiggestellt, dass ich sehr wohl an Deck war, aus lauter Angst, sie würden mir den Mord an meinem geliebten Mann anhängen. Dabei bin ich mir jetzt sicher, Richard war es, der Will umgebracht und unsere gesamten Ersparnisse gestohlen hat.«
»Ja, aber dann wäre es doch wirklich besser, wir gingen gemeinsam zur Polizei ...« Er stockte. »Nein, Sie dürfen ihm nicht begegnen. Er liegt nämlich auf dem Sofa vor der Rezeption wie ein Wachhund. Wissen Sie was? Ich hole die Polizei, schildere den Sachverhalt und gebe den Polizisten den Hinweis, dass er das gestohlene Geld bei sich hat ...«
»Er hat es in meinem Koffer versteckt!«, unterbrach Selma ihn verzweifelt.
»Wunderbar, dann geben wir das Geld bei der Polizei ab.«
»Er hat den Koffer auf seinem Zimmer.«
»Das ist in der Tat verworren.« Mister Wayne strich sich grüblerisch durch seinen dunklen Bart.
Selma sah ihn erschrocken an. »Sie glauben mir doch, oder?«
Er nickte eifrig. »Ja, also, sagen wir einmal so: Ich bin es gewohnt, verwirrende Geschichten zu hören. Ich bin Anwalt und habe immer nur die eine Wahl: etwas zu glauben und ein Mandat zu übernehmen, oder etwas nicht zu glauben und es nicht anzunehmen. Ihres nehme ich an ...«
»Aber ... aber ich habe kein Geld, um Sie zu bezahlen«, widersprach Selma beschämt.
»Manchmal übernehme ich etwas nur, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Aber dieser Fall wird nicht ganz einfach. Ihr Schwager wird behaupten, er habe gelogen, um Sie nicht ans Messer zu liefern. Natürlich hätten Sie die Kajüte zur Tatzeit verlassen. Die Polizei wird Sie fragen, warum Sie seiner Aussage nicht widersprochen haben. Und dann die Beute in Ihrem Koffer ... Schlimmstenfalls wird man vermuten, dass Sie mit ihm unter einer Decke stecken.«
»Es ist ganz lieb von Ihnen, dass Sie mir auf diese Weise helfen wollen.
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