Das Geheimnis des Rosenhauses - Roman
getan. Fürsorglich legte er mir den Arm um die Schulter und bedeutete mir, es ihm gleichzutun. Auf diese Art stützten wir uns gegenseitig, das war unbedingt notwendig, ich hatte einen verletzten Knöchel und er hatte zwei Jahre lang Fußketten getragen.
Es war einiges los im Berg. Unten in der Halle schien eine Versammlung stattzufinden, und mehrere Wärter standen auf den Fluren und Treppen herum, lehnten über die Brüstung und spähten in den Schacht. Mir wurde übel vor Angst. Jeden Augenblick rechnete ich damit, dass sich uns einer in den Weg stellen und drohend fragen würde, wer wir waren und was wir mit Hanno und Fettsack gemacht hätten. Doch niemand fragte. Die Wärter sahen in uns zwei ihrer Kollegen, die ein wenig angetrunken die Treppen hinunterstaksten. Wäre ich allein gewesen, ich hätte vorsichtig und heimlich wie eine Maus versucht, nach draußen zu huschen, und es wohl nicht mal bis zum Tor geschafft.
Jetzt erkannten wir auch den Grund für die Unruhe, die bis in unsere Zelle gedrungen war. Sie kam aus dem Schacht, in dem die Käfige hingen. Irgendwo oben im Berg muss ein Räderwerk existieren, mit dem man die Position der Käfige verändern kann. Man kann die unteren nach oben ziehen und die oberen absenken, und genau dies geschah gerade. Schnarrend und schwankend fuhren die Käfige an uns vorüber. Die meisten der Gefangenen ließen die Prozedur teilnahmslos über sich ergehen, einige aber kreischten ganz entsetzlich. Einer hüpfte in seinem Käfig hin und her und versetzte ihn in so wilde Schaukelbewegungen, dass er um ein Haar mit einem anderen zusammengestoßen wäre, der gerade nach oben fuhr. Ein Pfiff gellte, der Käfig des Schauklers stürzte ungebremst in den Abgrund. Der Mann schrie in Todesangst, da hielt der Käfig eine Handbreit über dem Steinboden hart an. Er ruckte noch einmal und pendelte aus. Der Schaukler weinte wie ein Kind und die Wärter brachen in grölendes Gelächter aus.
Pinter und ich hatten uns wie alle anderen über das Geländer gebeugt und verfolgt, was geschah. Pinter grölte mit den Wärtern um die Wette und stieß mich mit dem Ellenbogen in die Seite, damit ich es auch tun sollte. Also versuchte ich ebenfalls zu grölen, aber es wollte mir nicht recht gelingen, denn plötzlich fühlte ich ganz deutlich, dass mich jemand beobachtete. Vorsichtig schielte ich unter meiner Kapuze hervor – und da sah ich sie. Das falsche Lachen blieb mir im Hals stecken. Sie saß in dem Käfig, der nach oben fuhr, den der Schaukler eben fast gerammt hätte, und sie schaute mich an. Ich wollte … ach ich weiß nicht, was ich wollte … auf den Käfig springen, sie retten, sie befreien, mich mit ihr in den Tod stürzen, alles, alles wollte ich tun – und ich tat nichts, ich stand nur da und glotzte wie versteinert.
Sie aber lachte. ›He Wärter!‹, rief sie, ›zieh deine Kapuze über die Ohren, sonst sieht man ja noch, wie grün du dahinter bist! Mach, dass du heimkommst, zu deiner Familie, die warten sicher schon sehnsüchtig auf dich! Erzähl ihnen Schauergeschichten von der bösen Hexe Graviata! Los, kleiner Wärter, du hast doch jetzt frei! Lauf, sonst hex ich dir einen Schweinsrüssel und Ziegenfüße an!‹
Die Wärter, die ihre Rede mit angehört hatten, grölten noch lauter als zuvor. ›Schweinsrüssel, Ziegenfüße!‹, schrie einer. ›Warum nicht gleich Ringelschwänzchen und Spitzöhrchen!‹ Sie lachten und machten anzügliche Gesten, und doch wichen sie alle ein paar Schritte zurück, wenn ihr Käfig an ihnen vorüber nach oben schwebte. Mama aber schaute noch einmal zu mir und deutete fast unmerklich mit dem Kopf zum großen Tor hinunter, das langsam aufschwang, während sie in ihrem Käfig in den Höhen des Berges verschwand.«
Die Rattenkinder waren sehr still.
»Das hast du noch nie erzählt«, sagte endlich eines mit einem leisen Vorwurf in der Stimme.
Damiano schüttelte den Kopf. »Den Teil hab ich immer ausgelassen. Ich mochte nicht darüber reden. Aber meine Schwestern haben ein Recht auf die ganze Geschichte.«
Lulu und Rafaela schwiegen.
»Wir müssen sie da rausholen«, sagte Wanda.
Damiano trank einen großen Schluck aus der Flasche. Und gleich noch einen hinterher.
»Du konntest nichts tun«, sagte Wanda. »Sie wollte, dass du gehst, und das war das einzig Vernünftige. Du konntest gar nichts anderes tun.«
»Weiß ich doch!«, brauste Damiano auf. »Aber ich fühl mich trotzdem wie ein Schuft!«
Lulu weinte, wischte sich die Tränen ab
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