Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
als Person und nicht bloß als lästiges Anhängsel gesehen. Außerdem war Pirat ein ausgesprochen anspruchsloser Zeitgenosse, der eine ruhige Ecke und einen vollen Napf zu schätzen wusste.«
Diese Nachricht beruhigte Greta, auch wenn ihr ordentlich der Kopf schwirrte. »Wo ist denn dieser Film abgeblieben, den ihr beiden Jungs verschossen habt … Und die restlichen Fotos?«
»Den Film und die Abzüge von unseren Aufnahmen habe ich versteckt, sehr gut sogar, denn ich wollte um jeden Preis verhindern, dass sie Thaisen in die Hände fielen. Dasselbe galt für den Walfischknochen – für ein solch heidnisches Relikt, dem man eine magische Wirkung nachsagte, hätte er noch weniger Verständnis gehabt als für meine Freundschaft zu dem Streuner und Gelegenheitsdieb Ruben.«
»Ich würde die übrigen Aufnahmen sehr gern sehen.«
Der Blick, mit dem Arjen sie maß, verriet, dass er ihr Angebot richtig einzuschätzen wusste. Er hatte längst mitbekommen, dass er sie mit seiner Vergangenheitssuche angesteckt hatte. »Meine Zeit mit Ruben … Sie ist wie ein großes Geheimnis, an das ich mich nie zuvor herangewagt habe – bis jetzt. Hab ein wenig Geduld mit mir, mein Liebes. So leid es mir tut, aber ich muss hier wirklich meinem eigenen Tempo folgen.«
»Das verstehe ich ja auch – und ich werde dich darin un terstützen, diesem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Versprochen.«
»Danke. Das bedeutet mir sehr viel.« Unvermittelt breitete sich Kraftlosigkeit auf Arjens Zügen aus, und sein Kopf sank schwer in die Kissen. »Ich bin froh, dass du zu mir stehst, obwohl ich es dir nicht gerade leicht mache. Deine Sorge um meine Gesundheit … Und dann bringe ich dich auch noch in eine unmögliche Situation deiner Mutter gegenüber.«
»Dass du beim Telefonieren mit Anette herunterspielst, wie krank du in Wirklichkeit bist, ist ja durchaus auch in meinem Interesse, auch wenn es mir ein schlechtes Gewissen macht. Aber so ist es auch für sie besser, schließlich macht sie durchaus den Eindruck, sich an deine Abwesenheit zu gewöhnen. Ansonsten hätte sie kaum so locker auf die Nachricht reagiert.«
»Das stimmt. Trotzdem tut es mir leid, ich lüge ungern. Ich möchte dir die Wahrheit sagen …« Arjens von dunklen Adern durchzogene Augenlider schlossen sich für einige Sekunden, als würden sie sich seinem Willen entziehen.
»Ist schon gut.« Greta nahm seine Hand, als er erneut ansetzte, aber zu schwach war. »Schlaf dich aus. Wir reden morgen weiter, wenn du wieder bei Kräften bist. Wir haben uns gemeinsam auf diese Reise begeben und werden auch gemeinsam entscheiden, wie sie weiter verlaufen soll. Du kannst also ganz beruhigt sein, ich probe keinen Alleingang.«
Sichtlich erleichtert schlief Arjen ein.
Greta blieb noch eine Zeit lang neben seinem Bett sitzen, bis sich die Welt hinter den Fenstern schwarz gefärbt hatte. Dann ging sie auf ihr Zimmer, allerdings nur um ihre Jacke zu holen. Sie würde ihren Großvater bei seiner Suche nach der Vergangenheit unterstützen, aber dafür würde sie Hilfe benötigen.
17
Es war ein Glück, dass im Leileckerland an diesem Abend ordentlich Betrieb herrschte – offenbar nutzten einige Beekensieler einen Restaurantbesuch als Höhepunkt des Wochenendes. Deshalb kam Trude lediglich dazu, Greta rasch Mattes’ Adresse in der Hafengegend zu nennen, sonst wäre ihr der Tellerstapel, den sie trug, aus den Händen geglitten.
»Wollen Sie dem Mattes etwa einen Besuch abstatten? Warten Sie einen Moment, ich bring das nur rasch zur Spüle, dann bin ich auch schon bei Ihnen.«
Doch diese Aufforderung überhörte Greta geflissentlich, stattdessen sah sie zu, dass sie in die Nacht verschwand.
Nach dem hell erleuchteten und von bestens gelaunten Stimmen erfüllten Leileckerland schien das Dorf wie verwaist, denn jeder Laut wurde vom Brausen des Meeres und vom Sturm übertönt. Er vertrieb die Menschen von den Straßen, und die wenigen, denen Greta begegnete, huschten vorbei, ihr Ziel fest im Sinn: raus aus dem schneidenden Wind. Obwohl hinter einigen Vorhängen Lichter brannten, kamen sie kaum gegen die Dunkelheit an und verliehen den Straßenzügen einen Anstrich von Verlorenheit, als wären sie nichts weiter als die Illusion einer menschlichen Zuflucht inmitten der tosenden Naturgewalten.
Greta verwünschte sich dafür, keine Mütze dabeizuhaben. Ihre beachtliche Sammlung an Kopfbedeckungen war neben vielen anderen Dingen in Zürich geblieben, wo Erik sich, laut Anette, weigerte,
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