Das Geheimnis meiner Mutter
dem so viele Millionen Menschen ihren ersten Atemzug amerikanischer Luft getan hatten. Granny und Grandpa sprachen nur wenig, während sie sich die Bilder der vor Menschen wimmelnden Wartesäle und Schlafräume ansahen, von dem Flachdach, auf dem Kinder spielten. Sie hatten sich lange mit den in Schaukästen ausgestellten Stücken beschäftigt – ein Ranzen aus brüchigem Leder, ein einzelner Kinderschuh, eine gedruckte Fahrkarte, eine abgestempelte Einreiseerlaubnis. Ein Gefühl der Ehrfurcht ergriff sie, als sie ihre Namen auf einer der geprägten Messingtafeln fanden, die die Grenze des Parks markierten. Sie fuhren die Buchstaben ihrer Namen mit den Fingern nach, und Jenny würde nie vergessen, wie sie einander umarmend vor der Plakette standen, während der Wind ihre Haare zerzauste und sich im Hintergrund die Freiheitsstatue erhob. Eine überwältigende Mischung aus Traurigkeit, Reue und Dankbarkeit erfasste sie, als sie in diesem Augenblick einen klitzekleinen Eindruck davon erhielt, wie es für die beiden gewesen sein musste – selber noch beinahe Kinder, frischverheiratet, auf der Flucht in ein unbekanntes Land mit dem Wissen, dass sie ihre Familie nie wiedersehen würden.
Jenny war damals dreizehn Jahre alt gewesen. Sie war voller Liebe für ihre Großeltern, und – wie sie hier entdeckte – voller Wut auf ihre Mutter. In dem Jahr waren sie auch ins Cloisters gegangen, ein Mittelalter-Museum am anderen Ende von Manhattan. Um dorthin zu kommen, hatten sie den Bus genommen. Als sie durch die Upper East Side fuhren, wusste sie, dass hier in der Nähe Rourke McKnight wohnte, weil er und Joey es ihr einmal erklärt hatten. Sie schaute voller Bewunderung auf die wunderschönen Gebäude aus der Blütezeit der Wirtschaft, auf die Parks, in denen Kindermädchen in gestärkten Kleidern Kinderwagen schoben, auf die gepflegten Rasenflächen und die glänzenden Limousinen, die ihre wertvolle Fracht von hier nach dort brachten.
Sie erinnerte sich, gedacht zu haben: Das hier ist seine Welt. Sie hatte sich damals wie eine Außerirdische gefühlt, und genauso ging es ihr heute.
Jeder in der Stadt schien genau zu wissen, wo er sein und was er tun sollte – die Essenverkäufer an den Straßenecken, die schwarz gekleideten jungen Geschäftsleute, die in ihre Handys sprachen, während sie die Straßen entlangeilten. Sogar die Raucher, die sich um die sandgefüllten Aschenbecher vor den Türen der Hochhäuser versammelt hatten, wirkten wichtig und geschäftig.
Vielleicht würde sie mit der Zeit auch ein Teil dieser hetzenden Masse werden. Aber im Moment tat sie nur so als ob. Sie bog an der 47th Street ab, auf der es nur so vor Einkaufswilligen, Diamantenhändlern und Brokern wimmelte. Viele von ihnen waren chassidische Juden und trugen die traditionellen schwarzen Mäntel und Hüte, Schläfenlocken und Bärte, die lediglich den unteren Bereich des Gesichts bedeckten. Schmuckstücke mit Diamanten glitzerten in den Fenstern der eng aneinanderstehenden Läden. An einer Ecke stieg Jenny ein spezieller Geruch in die Nase – heiße Abgase gemischt mit dem rauchigsüßen Aroma gerösteter Nüsse. Sie sah ein kleines Mädchen mit einer Frau, die nach einem Taxi winkte. Die Frau hatte es eilig, und das kleine Mädchen stolperte, halb gezogen, hinter ihr her.
Bei ihrem Anblick hatte Jenny das Gefühl eines Déjàvu. Deutlich hörte sie die Stimme in ihrem Ohr, die in kurz angebundenem Ton sagte: „Komm schon, Jenny. Du musst schritthalten. Wir müssen einen Flieger kriegen.“
„Ich will nicht wegfliegen.“
„Fein, dann lass ich dich halt zu Hause.“
Einen Moment lang fühlte Jenny sich ihrem eigenen Leben entrückt. Auch wenn die Erinnerung nur schwach war, wie ein halb erinnerter Traum, hatte sie das unheimliche Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein.
Im nächsten Häuserblock folgte sie den absteigenden Hausnummern und erreichte schließlich die Adresse, an der sie mit Philip Bellamy und Martin Greer verabredet war. Martin war ein Mann, den Philip seit seinen Collegetagen kannte, und nun ein erfolgreicher Literaturagent mit eigener Firma.
Als Jenny ihren Mantel, Hut und Handschuhe der Garderobiere des Restaurants übergab, merkte sie wieder das leichte panische Kribbeln in ihrem Brustkorb. Oh, komm schon, dachte sie. Nicht jetzt. Das wäre wirklich ein ganz lausiges Timing. Sie überlegte, vorsichtshalber eine Tablette zu nehmen, verwarf die Idee aber gleich wieder. Die nächste Stunde über würde sie die
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