Das Geheimnis meiner Mutter
Jenny ihre Teetasse ab. Camp Kioga? Das würde bedeuten, New York zu verlassen, nach Avalon zurückzukehren. War sie bereit, schon nach nur wenigen Wochen in der Stadt einen Schlussstrich unter ihren Ausflug zu ziehen? „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist sehr großzügig von dir. Ehrlich gesagt sogar zu großzügig.“
„Unsinn. Die Hütte ist perfekt für den Winter. Sie ist einfach, aber hübsch und gemütlich.“
Dessen war sich Jenny wohl bewusst. Sie hatte die Hütte schon öfter gesehen, aber jetzt erinnerte sie sich, wie sie sich am Vierten Juli hineingestohlen hatten. In dieser Hütte hatte Rourke sie das erste Mal geküsst. An den Kuss konnte sie sich allerdings wesentlich besser erinnern als an die Hütte.
„Letzten Herbst haben wir die Hütte an eine Frau vermietet, die sich dort mit ihrer Familie von ihrer Krebserkrankung erholen wollte“, fuhr Jane fort. „Sie brauchten ein wenig Abstand zu allem, um die Tortur ihrer Krankheit hinter sich zu lassen. Seitdem steht sie leer. Die Straße den Berg hinauf ist nach heftigen Schneefällen unpassierbar, wenn sie nicht geräumt wurde. Aber deine beiden Großväter sind immer mit Schneemobilen hinaufgefahren, wenn sie zum Eisangeln wollten.“ Jane schob Jenny über den Tisch einen kupferfarbenen Schlüssel zu. „Denk darüber nach. So ganz ohne Ablenkung könntest du eine ganze Menge schreiben.“
23. KAPITEL
E ndlich war Daisy auf dem Weg zu ihrem Termin in der Klinik. Sie hatte das Gefühl, dass ihr gleich der Kopf platzen würde nach all den Stunden, die sie in verschiedenen Beratungsgesprächen verbracht hatte. Die Ärztin hatte festgestellt, dass sie kerngesund und seit neun Wochen schwanger war. Sie hatte ihr alle Möglichkeiten aufgezählt und Daisy ermuntert, sich jede einzelne gut zu überlegen, ein paar Tage mit der jeweiligen Entscheidung zu leben und sich ihr Leben vorzustellen, wie es in sieben Monaten aussähe, in einem Jahr, in fünf und danach.
Das war eine ziemlich erschreckende Übung, schwanger oder nicht. Daisy wusste nicht, was die Zukunft für sie bereithielt. Sie wusste nicht, was sie wollte oder wer sie sein wollte.
Sie warf einen Blick zu ihrer Mutter, die am Steuer saß. Innerhalb von zwölf Stunden nach Daisys Anruf hatte sie alles fallen lassen und war aus dem Internationalen Gerichtshof mit seiner weißperückten Gerechtigkeit hinausmarschiert. Daisys wegen hatte Sophie Bellamy dem Fall den Rücken gekehrt, an dem sie ihr halbes Berufsleben arbeitete.
„Es tut mir echt leid, Mom“, sagte Daisy. Wow, wenn das mal nicht die Untertreibung des Jahres war.
„Süße, das muss dir nicht leidtun.“
Die Worte klangen freundlich, aber Daisy wurde den Gedanken nicht los, dass ihre Mutter mit Enttäuschung und Angst kämpfte. Und Daisy nahm es ihr nicht übel. Ihr würde es vermutlich genauso gehen, wenn ihre Rollen vertauscht wären. „Du musstest den Gerichtshof verlassen.“
„Und ich kann wieder dorthin zurückkehren. Notfälle in der Familie passieren jedem mal.“
Daisy verfiel wieder in Schweigen und dachte noch einmal über ihre Möglichkeiten nach. Sie hatte ernsthaft erwogen, das Kind zur Adoption freizugeben, hatte sich sogar Videos von möglichen Elternpaaren angeschaut, die alle so leidend und ernst wirkten. Aber sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich nicht vorstellen, ihr neugeborenes Baby für immer in andere Hände zu geben. Die Alternative, das Baby zu behalten, hatte sie bereits der Realitätsprüfung unterzogen. Die Beraterin hatte ihr einen kleinen Pager gegeben, der sie zwang, vierundzwanzig Stunden mit einem virtuellen Baby zu leben, das andauernd schrie, in die Windeln machte, sich übergab und – laut einer nationalen Statistik – die nächsten achtzehn Jahre lang durchschnittlich 240 Dollar in der Woche kostete. Und dann gab es da noch die Abtreibung – eine sichere und legale Prozedur.
Daisy schaute aus dem Fenster auf die graue Winterwelt, die an ihnen vorbeizog. Sicher hatte sie davon geträumt, irgendwann einmal ein Baby zu haben. Aber nicht in sieben Monaten. In sieben Monaten hätte sie gerade mal Highschoolabsolventin sein sollen. In einem Jahr hätte sie vielleicht herausgefunden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. In fünf Jahren würde sie sich womöglich gar nicht mehr an diesen Tag erinnern.
„Danke, dass du das machst“, sagte sie zu ihrer Mutter.
„Das ist doch selbstverständlich.“
„Ich wünschte, du würdest sagen, was du wirklich
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