Das Geheimnis meiner Mutter
Scheidung für Daisys Eltern eine wahre Tortur gewesen und vermutlich für die Kinder genauso.
Jenny kam um den Tisch herum und nahm die Hände ihrer Cousine. Alle Fingernägel waren heruntergekaut. „Sag mir, wie ich dir helfen kann.“
Daisy schaute sie aus ihren wunderschönen blauen Augen an, die an die Färbung von Delfter Fayencen erinnerten. „Das tust du bereits.“ Sie nickte. „Es ist seltsam. Ich gehe zur Schule, hänge mit meinen Freunden herum, und es fühlt sich an wie ein ganz normales Leben. Und dann, bumm . Mir fällt ein, dass ich schwanger bin. Und das gibt mir das Gefühl, eine Außerirdische von einem anderen Planeten zu sein.“
Jenny erinnerte sich noch daran, welche Ängste Nina ausgestanden und wie sie sich im Verlauf der Schwangerschaft verändert hatte. Ein schwangeres Mädchen, das die Flure der Highschool entlangging, hatte etwas an sich, das es vom Rest der Welt trennte, als wenn es in einer eigenen Luftblase lebte. War das heutzutage noch genauso?
„Ich kann nicht behaupten, irgendwelche Erfahrungen auf dem Gebiet zu haben“, sagte sie. „Aber ich habe welche darin, eine Erwachsene zu sein. Wenn man aufwächst, kann man den Tag kaum erwarten, an dem einem niemand mehr sagt, was man zu tun und zu lassen hat. Hat man diesen Tag jedoch erst einmal erreicht, kommen immer wieder Zeiten, in denen man sich wünscht, jemand würde einem wieder sagen, was man tun soll.“
Daisy stieß einen Seufzer aus. „Wem sagst du das.“
„Als ich in deinem Alter war, fühlte ich mich genauso. Ich konnte es kaum erwarten, nach dem Highschoolabschluss aus Avalon herauszukommen.“
„Was ist passiert?“
„Mein Grandpa starb und ließ mich und meine Großmutter allein mit der Bäckerei zurück. Und es wäre immer noch in Ordnung gewesen, wenn ich gegangen wäre, denn Granny hatte Laura, die ihr half, die ganze Stadt voller Leute, die sie liebten. Aber dann erlitt Granny einen Schlaganfall. Sie hat mich nie gebeten zu bleiben. Sie hätte einen Weg gefunden, alleine zurechtzukommen. Aber wie hätte ich das tun können? Ich konnte sie doch nicht einfach im Stich lassen.“ Sie hielt inne und spürte den Schmerz über all die Pläne, die sie gemacht hatte und die sich dann in Rauch aufgelöst hatten. „Ich lebte also weiterhin zu Hause, kümmerte mich um die Bäckerei und meine Großmutter, und die Jahre flogen einfach nur so an mir vorbei.“
„Wünschst du dir manchmal, du hättest etwas anders gemacht?“
Vor dem Trip nach New York hätte sie ohne zu zögern Ja gesagt. Jetzt jedoch merkte sie, dass das Leben, das sie gelebt hatte, genau das richtige gewesen war. Auch wenn es nicht glamourös oder aufregend war, gehörte sie hier in diese kleine Stadt, in ihre Bäckerei, umgeben von Leuten, denen sie etwas bedeutete. „Das ist das Seltsame“, versuchte sie, Daisy zu erklären. „Das Leben hat so seine Art zu funktionieren, auch wenn es nicht so läuft, wie wir es uns vorgestellt haben. Ich erinnere mich noch dran, wie ich in dem Wartezimmer eines Krankenhauses stand und die Ärzte mich baten, diese schwerwiegende Entscheidung über meine Großmutter zu treffen. Ich fühlte mich wie … paralysiert. Ich hätte alles dafür gegeben, dass jemand anders diese Entscheidung trifft. Aber es gab niemanden außer mir. Ich musste mich entscheiden und mit den Konsequenzen leben. Was gar nicht so schlimm ist“, beeilte sie sich zu sagen und berührte Daisy sanft an der Schulter. „Was immer du auch beschließt, die Erfahrung wird dich auf Arten lernen und wachsen lassen, die du dir niemals hättest vorstellen können.“
„Ich hoffe, dass du recht hast. Denn ich … ich habe mich entschieden, das Baby zu behalten. Meine Eltern wissen es, und sie sind, na ja, irgendwie einverstanden damit. Ich meine, so einverstanden, wie man das unter diesen Umständen erwarten kann. Ich habe keine Ahnung, ob es richtig ist oder nicht, aber ich konnte einfach kein Leben zerstören. Meine Familie ist zerbrochen, aber ich denke, das Baby und ich … wir werden einfach eine kleine eigene Familie.“
„Ich verstehe. Das ist … gut“, sagte Jenny, obwohl sie innerlich zusammenzuckte. Daisy war so jung, und ein Baby war so eine große Verantwortung.
„Bin ich jetzt gefeuert?“, wollte Daisy wissen und schob ihre Hände in die Hosentaschen.
Jenny stieß ein ungläubiges Lachen aus. „Das ist nicht dein Ernst. Natürlich bist du nicht gefeuert. Zum einen finde ich es sehr schön, dass du hier arbeitest, und
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