Das Geheimnis meiner Mutter
gekommen, was die Angelegenheit etwas weniger ermüdend machte. „Sei ehrlich“, sagte Jenny. „Wie viele zerreißen sich das Maul, weil ich bei Rourke wohne?“
„Würdest du mir glauben, wenn ich sage, niemand?“
„In dieser Stadt? Eher nicht.“ Jenny unterschrieb ein weiteres Dokument.
„Glaub mir, die Leute haben größere Sorgen als das.“ Nina streckte die Hand nach den Formularen aus. „Ich werde die für dich im Büro einreichen.“ Gemeinsam gingen sie durch den langen Korridor, an dem sich ein Büro ans andere reihte.
„Was für Sorgen?“
Nina winkte ab. „Finanzierungskram. Ich will dich nicht mit Einzelheiten langweilen. Lieber würde ich von deinem Zusammenleben mit Rourke hören.“
„Siehst du?“, gab Jenny kurz angebunden zurück. „Ich sollte nicht dort wohnen. Es ist verrückt.“
„Ich zieh dich doch nur auf. Hör mal, wir wissen immer noch nicht, was das Feuer in deinem Haus ausgelöst hat“, sagte Nina. „Du solltest wenigstens so lange bei ihm bleiben, bis die Brandursache feststeht.“
„Oh Gott. Eine Verschwörungstheorie?“
„Nein. Ich denke nur praktisch. Und wenn es so schlimm ist, dann zieh halt zu mir.“
„Ich komme vielleicht darauf zurück.“ Jenny wusste, dass sie das nicht tun würde, weil Nina und Sonnet gar keinen Platz hatten. „Wichtiger ist es allerdings, dass ich eine neue dauerhafte Lösung finde.“
„Überstürz nur nichts. Erinnere dich an das, was der Versicherungsmensch gesagt hat: Triff jetzt keine wichtigen Entscheidungen. Und die Wichtigste von allen wäre, wo du wohnen und den Rest deines Lebens verbringen wirst.“
Allein die Worte zu hören beschleunigte Jennys Herzschlag und warnte sie, dass jederzeit eine Panikattacke ganz dicht unter der Oberfläche lauerte. Es war ein seltsames Gefühl, morgens aufzuwachen und nicht zu wissen, wie ihr Leben weitergehen würde.
Nina musste die Sorge in ihrem Gesicht gelesen haben. Sie gab Jenny einen aufmunternden Klaps auf die Schulter. „Das Letzte, worüber du dir Sorgen machen solltest, ist, was die Leute denken. Nimm dir einfach die Zeit, die du brauchst, okay?“
Jenny nickte. Dann zog sie den Reißverschluss ihrer Jacke zu, um sich gegen die Kälte zu wappnen, und ging zu Fuß zu Rourkes Haus zurück. Die drei dankbaren Hunde rasten vom Vorflur in den Garten, und Jenny trug die Tüte mit den Lebensmitteln und ein paar Bücher aus der Bücherei ins Haus. Irgendwann würde sie sich neue Ausgaben all der wertvollen Bücher kaufen müssen, die sie im Feuer verloren hatte. Da waren die Lieblingsbücher ihrer Kindheit, die zum Glück noch gedruckt wurden. Doch die Bibliothekarin hatte sie gewarnt, dass einige vielleicht nicht mehr erhältlich wären. Sie hatte allerdings auch versprochen zu versuchen, ein Exemplar ihres absoluten Lieblingsbuchs zu finden. Es war die Geschichte zweier Schwestern, über die Jenny als Kind unzählige Tränen vergossen hatte. Dann gab es noch die Bücher, zu denen sie immer wieder zurückkehrte. Eine Sammlung von Essays über das Schreiben von Ray Bradbury. Geschichten über Flucht und Neubeginn wie Unter der Sonne der Toskana . Oder die Geschichten über Essen von Ruth Reichl. Das waren die Bücher, an die Jenny sich erinnerte. Doch ihr größtes Bedauern galt den Büchern, an die sie sich nicht mehr erinnern würde.
Langsam zog sie ihre Handschuhe und ihren Parka aus und ging dann ins Wohnzimmer, um sich im dortigen Bücherregal umzusehen. Sie ertappte sich oft dabei – dass sie Rourkes Haus nach Anzeichen dafür durchsuchte, wer er wirklich war. Vielleicht, gestand sie sich ein, suchte sie auch den, der er einmal gewesen war. Bücher sagten eine ganze Menge über einen Menschen aus, aber Rourkes Auswahl war so undurchsichtig wie er selber – Bücher über polizeiliche Ermittlungstaktiken, alte Lehrbücher, Reparaturanleitungen. Es gab auch eine große Sammlung an zerlesenen Taschenbüchern mit Titeln wie Angriff aufs 17. Revier und Straße der Mörder , in denen vermutlich eine ganz andere Polizeiarbeit beschrieben wurde, als Rourke sie jeden Tag in Avalon erlebte. Manche Bücher schienen ungelesen – vermutlich Geschenke von frustrierten Exfreundinnen; Beziehungsratgeber, die ihm zweifelsohne die Fehler in seinem Lebensstil aufzeigen sollten. Sie zählte mindestens drei verschiedene Ausgaben von Relationship Rescue , dem Bestseller des berühmten Fernsehpsychologen Dr. Phil. Das dazugehörige Arbeitsbuch war immer noch in Folie
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