Das Geheimnis meiner Mutter
Kummer darüber, dass er diesen Teil des Lebens seiner Tochter verpasst hatte.
Jenny schmerzte es auch, an all die Momente zu denken, in denen sie sich während des Aufwachsens gefragt hatte, wer wohl ihr Vater war.
„Wusstest du“, fragte Philip, „dass dein Großvater der beste Angelkumpel meines Vaters war?“
„Ja, Grandpa hat es mir erzählt.“ Jenny spürte den scharfen Stich des Bedauerns. Charles Bellamys Sohn und Leo Majeskys Tochter hatten sich ineinander verliebt. Sie hatten ein Baby gemacht. Aber keiner der beiden Männer hatte etwas davon gewusst. Schnell wechselte sie das Thema.
„Hast du gewusst, dass Daisy jetzt hier arbeitet?“, fragte sie.
„Nein, das wusste ich nicht. Hierherzuziehen muss eine große Umstellung für sie sein. Es ist nett von dir, dass du Daisy in die Bäckerei mit einbindest.“ Er zögerte. „Sie hat die Scheidung meines Bruders sehr schwer genommen.“
Jenny vermutete, dass er noch mehr über seine verstörte Nichte sagen könnte, aber das würde er natürlich nicht tun. Jenny war immer noch mehr Fremde als Tochter für ihn. Sie hoffte, dass es Daisy gefallen würde, hier zu arbeiten. Zach hatte sie im Laufe der Woche mit hergebracht, und sie schien durchaus motiviert, zu lernen. Jenny kannte ihre Cousine kaum, aber sie tat ihr leid. Irgendetwas war an ihrer Schule in New York vorgefallen, allerdings wusste Jenny nicht genau, was. Daisys Mutter arbeitete in Übersee, und Greg Bellamy war mit seinen Kindern in die Kleinstadt zurückgekehrt, in der er aufgewachsen war. Mitten im letzten Jahr der Highschool hatte Daisy die Schule wechseln müssen. Das Mädchen hatte etwas Schwermütiges an sich. Vielleicht würde Jenny sie besser verstehen, wenn sie sich erst einmal ein wenig kennengelernt hatten.
Ihr Rundgang endete wieder im Café. „Sieh dir das mal an.“ Sie zeigte auf die Wand, die mit Beglaubigungen, Zertifikaten und Erinnerungen vollgehängt war. Dort hing der erste Dollar, der hier eingenommen worden war, und die erste Erlaubnis der Gesundheitsbehörde für das Führen der Bäckerei.
Und dann waren da noch die ganzen Fotos, von denen die meisten schon so lange hingen, dass Jenny sie seit Jahren nicht mehr wirklich wahrgenommen hatte. Auf dem Rundgang mit ihrem Vater wurde Jenny bewusst, wie trist alles aussah. Der Laden konnte definitiv ein bisschen Auffrischung vertragen. Neue Farbe, vielleicht ein wenig Kunst an den Wänden.
„Der Avalon Troubadour hat der Bäckerei im Sommer der Eröffnung eine seiner seltenen Kritiken gegönnt. Über die Jahre ist sie fünf Mal in der ‚Kleine Fluchten‘-Rubrik der New York Times erwähnt worden.“ Sie zeigte ihm die gerahmten Zeitungsausschnitte.
Philip schaute sich den aktuellsten Ausriss an. „Zufluchtsort in den Catskills – 100 Meilen bis zum Paradies.“
„Nach so einer Erwähnung gibt es immer einen unglaublichen Anstieg der Besucherzahlen“, sagte Jenny. Sie sah, dass Philip ein Foto von ihr betrachtete, auf dem sie auf einem Stuhl hinter dem Tresen stand und ihrer Großmutter mit einem Blech Kekse zur Hand ging. Jenny war auf dem Bild ungefähr acht Jahre alt. Ihr Haar war zu zwei dicken Zöpfen gebunden, und ihr breites Grinsen zeigte eine Zahnlücke. „Vor dem Feuer hätte ich dir viel mehr Fotos zeigen können“, sagte sie. „Das Übliche, Weihnachtsfeste und Ostern, der erste Schultag, Kommunion …“
Philip räusperte sich. „Jenny, es wäre schön gewesen, all diese Fotos von dir zu sehen, aber das ist nicht das, was ich bedaure. Was mich wirklich traurig macht ist, dass ich all diese Jahre deines Lebens verpasst habe.“
Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Seine Sehnsucht schien die Hände nach ihr auszustrecken, sie an all den empfindlichen, einsamen Stellen in ihrem Inneren zu berühren. „Es ist doch nicht deine Schuld“, sagte sie mit rauer Stimme. Sie schluckte und zwang sich zu einem Lächeln. „Warum, glaubst du, hat sie dir nie von mir erzählt?“
„Ich weiß es nicht. Deine Mutter war …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich dachte, ich würde sie kennen. Ich dachte, wir wollten das Gleiche. Und ich habe sie geliebt, Jenny, aber für sie hatte sich etwas verändert. Ich weiß nicht, warum sie dich mir vorenthalten hat.“
„Ich bin sicher, dass sie ihre Gründe hatte“, sagte Laura, die das Gespräch der beiden beobachtet hatte.
„Jetzt können wir eh nichts mehr daran ändern.“ Jenny straffte die Schultern und zeigte auf ein Bild, das eine
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