Das Geheimnis vom Kuhhirtenturm
hatte.
Kurz blieb er stehen und überlegte, ob er umkehren sollte. Es wäre nicht weit gewesen, vielleicht vierhundert Meter oder so. Aber der Gedanke, in Archiven zu stöbern, war alles andere als erquicklich. Zum ersten Mal in seinem Leben bedauerte er, daß das Computerzeitalter nicht schon eher angebrochen war. Ein paar Stichworte in die Suchmaschine und man konnte jeden x-beliebigen Zeitungsartikel aufrufen. Das gelang sogar ihm, dem größten IT-Deppen Dribbdebachs (Drüben-des-Bachs respektive Sachsenhausen), der die Tastatur von Marias PC mit dem weitverbreiteten Zwei-Finger-Adlersuchsystem bearbeitete.
Na ja, sagte er sich, soll sich doch Elly ihre Lunge mit den unvermeidlichen Staubwolken aus Felix’ Keller vollpumpen. Herr Schweitzer setzte seinen Weg fort.
Und dann hatte er noch einen immens lichten Moment, als er schon fast bei seiner Haustür war. Die Wahrheit steckt nämlich im Detail. Und mit Details konnte zum jetzigen Zeitpunkt nur einer aufwarten: Doktor Werner Seiboldt. Jener Psycho-Heini, bei dem das Opfer in Behandlung gewesen war. Und der sich dessen Schwester Elly gegenüber auf seine ärztliche Schweigepflicht berufen hatte, obwohl der Tote ja tot war, und es ihm aufgrund seines Zustands egal sein konnte, was hinter seinem Rücken – also
six feet under
– über ihn geredet wurde.
Herr Schweitzer war wegen des Kaspers, wie er ihn nannte, dergestalt in Rage, daß er zehn Sekunden lang versuchte, die Tür mit dem auch rein optisch unpassenden Briefkastenschlüssel zu öffnen, bis er seinen Fauxpas bemerkte.
Oben angekommen hatte sich in ihm die Idee manifestiert, es diesem Kasper mal so richtig zu zeigen. Und Herr Schweitzer wußte auch schon wie. Aufgeblasene Wichtigtuer aus ihren Reserven zu locken, kaum etwas bereitete ihm mehr Spaß. Am liebsten hätte er sofort damit losgelegt, den Psychologen mit schweitzerscher Psychologie aufs Glatteis zu führen. Aber Geduld ist ja bekanntlich auch eine Tugend, beschwichtigte er sich.
Was Herr Schweitzer dann fabrizierte, hätte einem jeden Drogenbeauftragten das Blut in den Adern gefrieren lassen. Trotz Diät und tagelanger Abstinenz drehte er sich einen Joint.
Es ging dann auch sehr schnell. Das Rauschmittel schuf eine angenehme Distanz zur Jens Auer-Problematik. Binnen Sekunden waren sämtliche inneren Spannungen weitestgehend abgebaut.
Warum allerdings die Osterhasen, die Herrn Schweitzer in den Schlaf begleiteten, in Roben steckten und sich durch milchige Staubwolken kämpften, offenbarte sich ihm nicht mehr. Er schnarchte bereits.
– Rückblende –
Endlich hatte er an die Vase für das Grab seiner Frau gedacht. Vierzig Mäuse hatte er dafür im Blumenladen hingeblättert. Und noch mal fünfzehn für den Strauß roter Rosen. Unter normalen Umständen eine viel zu hohe Summe für einen Rentner. Doch war Normalität für ihn seit fast zwei Dekaden ein abstrakter Begriff, etwas, in der zu leben seiner Vera und ihm seit Sandras Tod nicht mehr vergönnt war.
Mit Wehmut verließ er den Friedhof. Vielleicht war es sein letzter Besuch dort. Je nachdem, was das Schicksal morgen für ihn bereithielt. In etwas mehr als anderthalb Tagen würde er sein Vernichtungswerk fortsetzen, beziehungsweise zum Abschluß bringen. Was dann geschah, wußten nur die Götter. Er hatte daran nicht den geringsten Gedanken verschwendet. Kann sein, die Bullen schnappten ihn, weil der von vorneherein festgelegte Termin und Tatort am Kuhhirtenturm gewisse Risiken in Form zufällig oder nicht zufällig dort aufkreuzender Passanten in sich barg. Immerhin lag der Hinterausgang der Jugendherberge, wo der Kuhhirtenturm in den Himmel ragte, auf dem Weg ins Amüsierviertel. Und selbst samstags morgens um zwei oder drei herrschte dort zuweilen noch ein reges Treiben. Er hatte es ausprobiert, war einige Male genau um diese Uhrzeit dort gewesen und hatte zugesehen und beobachtet. Der einzige Vorteil lag im Zustand der vorwiegend männlichen Besucher. Die meisten waren voll wie die Haubitzen und zeigten ernste Ausfallerscheinungen, wenn es darum ging, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Heute war ihm die Vorortstristesse Oberrads besonders zuwider. Wer konnte, war im Schwimmbad oder in seinem Kleingarten. Die Hitze hatte einen klaren Punktsieg gegen die sonstige Geschäftigkeit errungen. Obendrein hatte die Triebfeder all seines Tuns der letzten Jahre einen Schaden genommen. Und er wußte auch den Grund dafür, doch ändern konnte er daran nichts. Spätestens am Sonntag
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