Das Geheimnis vom Kuhhirtenturm
Fischer-Joschka ins Gedankenspiel. Genauer gesagt dessen literarischer Erguß ‚Mein langer Lauf zu mir selbst’. In diesem Buch wird nämlich beschrieben, wie man mit der Extremsportart Marathon extrem viel Fett abbaut, um hernach auszusehen wie eine verwitterte, klapprige Vogelscheuche, die beim nächsten zarten Windstoß den Geist aufgibt. Das hatte seinerzeit aber nicht lange vorgehalten. Im Nu war Fischer wieder mopsig wie eh und je gewesen. Sein nächstes Buch müßte folglich lauten: ‚Meine schnelle Flucht vor mir selbst.’
Anfangs war es ein flüchtiger, nicht zu fassender Geistesblitz. Dann aber wurden die Formen immer konkreter. Herr Schweitzer dachte, was einem Fischer gelang, konnte jeder andere ebenfalls in die Tat umsetzen. Auch ein Karel Esterházy. Dann nämlich würden die Puzzleteile endlich zueinander passen. Der dicke Esterházy aus der Zeit des Unfalls, bei dem seine Tochter umkam, könnte der Osterhasi sein, von dem der Ouzo-Schorsch ständig brabbelte.
Herr Schweitzer wurde ob dieser seiner Gedanken immer zappeliger. Am liebsten hätte er sofort losgelegt mit der Recherchiererei in diese Richtung. Sein überreizter Zustand wurde durch Zappas Disharmonien weiter verschärft, bis er nahezu alptraumhafte Dimensionen erreichte. Das Gequietsche vorne auf der Bühne drohte seine Schädeldecke zu sprengen. Um sich überhaupt noch im Zaume halten zu können, klemmte er beide Hände unter die Oberschenkel. Und dachte, hoffentlich ist diese Scheiße bald rum.
Wer war eigentlich schuld an seiner Misere? Maria? Er selbst? Herr Schweitzer wußte nicht mehr, wer auf die bescheuerte Idee gekommen war, sich Variationen von Frank Zappa reinzuziehen. Umgehend brach er diesen Gedankengang ab. Am Ende wäre er noch gezwungen gewesen, sich selbst eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Zumal er Zappa noch nie gemocht hatte. Für ihn war es Experimentalmusik mit verstimmten Instrumenten. Etwas, das bestens dafür geeignet war, selbst aus renitentesten Guantánamo-Gefangenen noch die letzten Geheimnisse zu pressen.
Er öffnete die Augen in der Hoffnung, irgendeinen Leidensgenossen zu erblicken, der mit angeekelter Miene den Mozartsaal verließ. Ohne zu zögern hätte er sich ihm angeschlossen. Aber nein, die piekfeinen Herrschaften lauschten andächtig der Darbietung. Was die namhaften Kritiker des Feuilletons als sensationell bezeichneten, hatte gefälligst auch sensationell zu sein, mochte das eigene Empfinden dem auch diametral entgegenstehen. Also Augen zu und durch. Kein Wunder, hing doch die eigene Kritikfähigkeit mit den Designer-Jäckchen an der Garderobe. Auch seine Maria wippte mit den Füßen im Takt, wo Herr Schweitzer beim besten Willen bloß einen taktlosen Klangbrei wahrnahm.
Und dann kam aus weiter Ferne, ganz, ganz leise erst, noch ein Ton hinzu, der imstande war, Tote aufzuwecken. Herr Schweitzer starrte gebannt auf die Bühne und suchte nach dem verantwortlichen Instrument. Doch einen Feuermelder hatte niemand in der Hand. Die Geige, die dazu vielleicht auch in der Lage gewesen wäre, hatte gerade Pause. Die dazugehörige Dame saß mit gespitzten Lippen auf ihrem Stuhl und wartete auf ihren nächsten Einsatz.
Der Ton wurde lauter. Tütt-tütt, tütt-tütt. Vor ihm reckten sich die ersten Hälse. Daraus schloß Herr Schweitzer messerscharf, daß der Ton nun auch von anderen gehört wurde. Aha, dachte er, lag ich doch richtig. Obendrein lobte er sich für sein feines Gehör.
Tütt-tütt, tütt-tütt. Der Ton hatte an Lautstärke noch eine Schippe draufgelegt. Noch dachten die meisten, er müsse irgendwie zur Aufführung gehören. Doch ganz allmählich breitete sich Unruhe aus. Der Dicke aus der ersten Reihe drehte sich zu ihm um. Herr Schweitzer gab ihm mit spärlicher Gestik und einem leichten Schulterzucken zu verstehen, daß auch er nicht wisse, was der komische Ton zu bedeuten habe, obwohl er, Herr Schweitzer, sämtliche Platten von Frank Zappa besitze, sie in- und auswendig kennen- und schätzengelernt habe, und daß es sich hier momentan um eine wirklich sehr gewagte Interpretation des Ensemble Modern handeln müsse, mit der er aber ebenfalls nicht einverstanden sei, schließlich werde sie dem Schaffen des amerikanischen Rockgitarristen aus Baltimore in keiner Weise gerecht. Nein, es tue ihm, Herrn Schweitzer, schrecklich leid, aber auch er müsse zustimmen, daß sich hier jemand ganz fürchterlich vertan habe. Der Dicke drehte sich wieder um.
Der Ton aber wurde immer fordernder.
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