Das Geheimnis von Digmore Park
Spitzenhäubchen. Sie war eine kleine, etwas untersetzte Dame von freundlichem Gemüt. So ernst wie heute hatte Dewary seine Tante allerdings noch nie gesehen. Nun hielt ihn nichts mehr in seinem Sessel. „Liebste Tante!“, er umfing sie mit beiden Armen und ließ sich von ihr an ihren ausladenden Busen ziehen, „wie schön, dich bei bester Gesundheit zu sehen!“
„Ach, Frederick, wenn ich gewusst hätte, in welche Schwierigkeiten dich mein Wunsch bringen würde, ich hätte dich nie gebeten, uns bei unserer heimlichen Abreise zu unterstützen! Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn … er …“, ihr Blick wanderte zu ihrem Sohn, der verlegen von einem Bein auf das andere trat und offensichtlich nicht wusste, wie er sich seiner Mutter gegenüber verhalten sollte, „… oder sie …“, Myladys Blick streifte Vivian Louise mit Verachtung, „… ihren Plan zu Ende hätte führen können! Die beiden hätten dich an den Galgen gebracht!“
„Nun, da hatte ich ja auch noch ein Wörtchen mitzureden“, bemerkte der Earl trocken. Er nahm seine Schwester am Arm, um ihr den Friedensrichter vorzustellen. „Ich denke, du kennst Sir Thomas Streighton noch nicht, meine Liebe. Mylord, meine Schwester Barbara!“
Während sie zwei Finger zum Gruß reichte, verbeugte sich der Friedensrichter. „Sie sind also Lady Barbara Bakerfield?“
Die Dame schüttelte den Kopf. „Nein, das bin ich nicht!“
Vivian fuhr auf. „Na sehen Sie, Sir, das ist gar nicht Edwards Mutter. Das ist bloß eine Schwindlerin, ein …“
„Louise, halt doch endlich den Mund!“ Noch nie war seine Gattin Edward derart auf die Nerven gegangen.
„Ich bin Mrs. Barbara Jennings, Mylord. Geborene Miss Barbara Dewary, verwitwete Lady Bakerfield!“
„Du hast den alten Knaben also wirklich geheiratet, Mutter!“
Mylady setzte sich an die Seite ihres Bruders auf das moosgrün bezogene Sofa. „Selbstverständlich habe ich das, mein Sohn. Denkst du, ich würde mit einem Mann zusammenleben ohne einen Ehering am Finger?“
Vivian schüttelte den Kopf und schnauzte ihren Ehemann an. „Das ist tatsächlich deine Mutter? Hast du nicht gesagt, sie würde sich hier ihr Leben lang nicht mehr blicken lassen? Hast du nicht gesagt, unser Plan wäre vollkommen sicher, da außer dir niemand ihre Adresse hätte? Wenn ich gewusst hätte, wie wenig ich mich auf dich verlassen kann, ich hätte dich nie und nimmer geheiratet!“
Lady Barbara wandte sich überrascht an ihren Bruder. „Was heißt, Edward hatte als Einziger meine Adresse? Du hattest meine Anschrift doch ebenfalls, John. Ich hatte dir einen langen, ausführlichen Brief geschrieben, in dem ich dir mein Tun erklärte. Ich hatte ihn dem Schreiben an Edward beigelegt … oh …“
Der Earl lächelte. „Dein Sohn hat wohl entschieden, mir deine Zeilen vorzuenthalten. Obwohl er angeblich stets um meine Gesundheit besorgt war …“
„Aber ich bin stets um deine Gesundheit besorgt, Onkel, das musst du mir glauben!“
„… obwohl er angeblich stets um meine Gesundheit besorgt war“, wiederholte der Earl ungerührt, „… hat er zugelassen, dass ich um dich trauerte. Und mir die schwersten Vorwürfe machte, es nicht verhindert zu haben, dass du allein den Spaziergang unternahmst, bei dem du deinem Mörder in die Hände gefallen sein musstest. Natürlich wusste ich, dass mein Sohn als Täter nicht in Frage kam. Und als ich dann von Paul die Wahrheit erfuhr …“
„Du hast von Paul die Wahrheit erfahren? Wie ist das möglich? Wir haben den Burschen doch …“ Edward verstummte.
„Du suchst nach dem passenden Wort, Neffe? Wie gefällt dir ‚erschlagen’? Ich weiß, das ist ein hässliches Wort. Doch noch viel hässlicher ist die Tat, die dieses Wort beschreibt. Ihr habt den armen Kerl bei der Einfahrt nach Digmore Park abgefangen, alles aus ihm herausgeprügelt und dann noch so lange zugeschlagen, bis er sich nicht mehr rührte!“
Lady Barbara ließ ein unterdrücktes Schluchzen hören. „Aber warum, Edward!? Warum hast du das getan? Paul war so ein lieber Junge! Ich hatte ihn unter meine Fittiche genommen, als seine Eltern früh verstarben. Ich liebte ihn fast wie einen eigenen Sohn! Das hast du doch gewusst!“
„Und ob ich das gewusst habe, Mutter!“, brauste seine Lordschaft auf und nun ließ er alle Vorsicht fahren. „Oh, wie sehr ich ihn dafür gehasst habe! Ich habe ihn ebenso gehasst wie deinen ach so klugen und guten Neffen dort drüben! Paul und Frederick bekamen all
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