Das Geheimnis von Ella und Micha: Ella und Micha 1 - Roman (German Edition)
drastischen Maßnahmen und beschloss, eine Nacht lang nachzuvollziehen, was meine Mutter gemacht hatte.
Meine Mom war nicht furchtbar. Sie hatte ihre guten Phasen, aber eben auch einen Haufen schlechte. Wenn sie obenauf war, war sie toll, unglaublich witzig. Zumindest dachte ich das als Kind. Als ich älter wurde, begriff ich leider, dass es nicht normal war, gigantische Einkaufstouren zu machen, mitten der Nacht mit dem Auto herumzufahren, so zu tun, als könnte man fliegen …
Und die Nacht auf der Brücke war nicht die schlimmste, die ich je erlebt habe. Sie war eher so etwas wie der letzte Schubs hin zum kompletten Kontrollverlust über mein Leben.
»Ella, wo bist du?«, höre ich Michas Stimme in meinem Kopf. »Bist du eingenickt?«
Wir parken vor Gradys Trailer, nahe einem Schrottplatz und einem verlassenen Wohnblock. Ich löse meinen Sitzgurt, steige aus dem Wagen und klappe den Sitz vor, damit Lila aussteigen kann.
»Nein danke.« Kopfschüttelnd lehnt sie sich tiefer in die Rückbank. »Ich warte lieber hier.«
»Drinnen bist du sicherer.« Micha zeigt auf einen verfallenen Schuppen in der Mitte des Felds. »Das da drüben ist eine Crack-Höhle, und, glaub mir, wenn die dich hier alleine sitzen sehen, kommen sie rüber und belästigen dich.«
Micha nimmt sie auf den Arm, aber ich lasse ihn, denn tatsächlich ist es hier nicht besonders sicher.
Unglücklich verzieht Lila das Gesicht und krabbelt aus dem Auto. »Wer ist der Typ, der hier wohnt? Doch kein Drogendealer, oder?«
»Nein, nur ein alter Freund.« Ich wechsele einen Blick mit Micha, und mich überrollt eine Welle von Gefühlen. Grady war mal Michas Stiefvater. Er war einige Jahre mit Michas Mutter verheiratet, und unsere schönsten Kindheitserinnerungen ranken sich um ihn, Camping, Angeln und an Autos schrauben. Mit acht und neun Jahren war unser Leben ein stabiles Ganzes, nicht in tausend Teile zerbrochen.
Als Micha und ich uns vor dem Auto treffen, nimmt er meine Hand, und ich wehre mich nicht. Hier zu sein ist, als würde ich in der Zeit zurückreisen, und es tut weh zu wissen, dass der Mann stirbt, der mir gezeigt hat, wie gut das Leben sein kann.
Lila zupft unsicher an ihrem Kleidersaum. »Seid ihr sicher, dass es okay ist, wenn ich mit reinkomme?«
»Entspann dich«, sage ich zu ihr, als wir auf die wacklige Holzveranda treten. »Grady ist ein netter Kerl. Er zieht bloß einen schlichten, nichtmaterialistischen Lebensstil vor. Er will so wohnen.«
Sie ringt sich ein Lächeln ab. »Na gut, ich entspanne mich.«
Micha drückt meine Hand und klopft an die Tür. Ein paar Klopfer später machen wir uns selbst auf. Alles ist, wie ich es in Erinnerung habe, und ich muss grinsen, weil es guttut. Grady ist in jüngeren Jahren viel gereist, und an seinen Wänden sieht man, wo er überall war. Auf einem Regal stehen kleine Matroschkas aus Russland, an der Wand hängt eine bemalte Bokota-Maske aus Afrika, und auf einem kleinen Klapptisch steht eine große Wasserpfeife aus Nepal. Das hier überwältigt mich und weckt Erinnerungen.
Der Trailer ist klein mit einer schmalen Küche, durch die man ins Wohnzimmer kommt. Wir drei füllen die freie Fläche fast vollständig aus.
Michas Hand wandert an meinem Arm nach oben, und er zieht mich zu sich. »Alles okay?«
Ich nicke und dränge die Tränen zurück. Micha küsst mich auf die Schläfe. Diesmal weiche ich nicht aus. Ich gönne mir diesen winzigen Moment.
»Es wird schon«, sagt Micha. »Und ich bin bei dir.«
Die Zeit ist um.
»Wo ist er?« Ich hole tief Luft, trete einen Schritt von Micha weg und schiebe die alte Ella weit von mir. Er zeigt über meine Schulter. Als ich mich umdrehe, sackt mir das Herz in die Hose. Der mittelmäßig kräftige, große Mann mit den leuchtend blauen Augen und dem vollen Haar hat sich in eine zerbrechliche, klapperdürre Gestalt mit tief liegenden Augen und kahl rasiertem Kopf verwandelt. Seine karierte Jacke ist ihm viel zu weit, und in seinen Hosengürtel sind zusätzliche Löcher gestanzt.
Ich zögere, habe Angst davor, ihn zu umarmen. »Wie geht es dir? Geht es dir einigermaßen?«
»Mir geht es immer okay, das weißt du doch. Von ein bisschen Krebs lasse ich mich nicht unterkriegen.« Sein Lächeln ist genauso strahlend wie früher. Auf seinen Stock gestützt, humpelt er auf mich zu. Ich gehe ihm entgegen bis zum alten Lederlehnsessel und nehme ihn vorsichtig in die Arme, weil ich Angst habe, ich könne ihn zerbrechen.
»Wie ist es dir ergangen, meine
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