Das Geheimnis von Melody House

anwesend wäre. Ich habe … ihn gesehen und mit ihm gesprochen. Außerdem hatte er vorher gewusst, dass er sterben würde, was noch seltsamer war. Aber er hatte sich damit abgefunden. Danach … na ja, danach fing es plötzlich damit an, dass ich irgendwelche Dinge voraussehen konnte. Nichts Besonderes, Kleinigkeiten. Wo etwas ist, was jemand anderes verloren hat, zum Beispiel. Am Anfang fand ich es nicht weiter beunruhigend, und ich dachte – genauso wie die Psychotherapeutin, die ich deswegen aufgesucht hatte – dass es nur eine Reaktion auf Joshs Tod wäre … ein Versuch, damit fertig zu werden.”
    “Aber das war nicht so?”
    Seine Stimme war immer noch sanft, und er musterte sie neugierig und längst nicht mehr so argwöhnisch wie sonst.
    “Nein, denn ich fing plötzlich an, außer Josh noch andere Geister zu sehen”, erklärte sie, mutiger geworden, allerdings ohne ihn auch nur eine einzige Sekunde aus den Augen zu lassen.
    Seine Mundwinkel umspielte ein amüsiertes Lächeln. “Was denn für Geister?”
    Wieder zuckte sie die Schultern. “Ich habe dir ja erzählt, dass ich auf der NYU war.”
    “Ja, und?”
    Darcy beobachtete ihn weiterhin aufmerksam. “Eines Tages kam ich an einer sehr alten Kirche in der Nähe meines Studentenwohnheims vorbei und sah dort eine alte Frau auf und ab gehen. Sie wirkte so aufgeregt und durcheinander, dass ich stehen blieb und mich erkundigte, ob ich ihr irgendwie helfen könnte. Sie sah mich an wie einen Geist und fragte: ‘Ja, können Sie mich denn sehen?’ Und ich erwiderte: ‘Ja, natürlich kann ich Sie sehen.’ Daraufhin berührte sie mich an der Schulter, wobei sie aussah, als ob sie anfangen wollte zu weinen, aber zugleich wirkte sie unendlich erleichtert. Dann sagte sie: ‘Ich bitte Sie, gehen Sie zu meiner Enkelin Charisse und sagen Sie ihr, dass der Schmuck in der Shirley-Temple-Puppe ist. Es ist schrecklich wichtig. Sie ist da in der Kirche, aber mir gelingt es nicht, zu ihr durchzudringen, auch wenn ich mir noch so viel Mühe gebe. Sie sieht mich einfach nicht.’ Ich dachte mir, dass die alte Frau ziemlich verwirrt sein muss, und versuchte sie zu beruhigen, indem ich ihr sagte, dass ihre Enkelin sie natürlich sehen könne und sie sie einfach nur anzusprechen bräuchte. Aber die Frau schüttelte wild den Kopf und wurde so aufgeregt, dass ich zu ihr sagte, ich würde jetzt in die Kirche gehen und Charisse sagen, dass der Schmuck in der Shirley-Temple-Puppe sei, was immer das auch heißen mochte. Danach verließ ich sie, um in die Kirche zu gehen.
    Als ich mich am Eingang noch einmal nach ihr umdrehte, war sie verschwunden. Da in der Kirche gerade ein Trauergottesdienst stattfand und ich mich wie ein Eindringling fühlte, ging ich wieder nach draußen und hielt nach der Frau Ausschau, aber sie war weg. Nachdem ich sie nirgends entdecken konnte, ging ich nach Hause.
    In dieser Nacht jedoch wachte ich von einem Schluchzen auf und bekam vor Schreck fast einen Herzschlag. Am Fußende meines Bettes saß die Frau, mit der ich vor der Kirche gesprochen hatte. Ich bekam so panische Angst, dass ich nicht einmal schreien konnte. Ich war wie gelähmt. Aber die Frau schluchzte immer noch so herzzerreißend, dass ich schließlich den Arm ausstreckte und sie berührte. Daraufhin sah sie mich an und sagte: ‘Sie haben mir versprochen, dass Sie es Charisse ausrichten. Bitte, sie hat sich aufopferungsvoll um eine alte Frau gekümmert, obwohl Ben bei diesem schrecklichen Zugunglück ums Leben kam und sie plötzlich mit drei kleinen Kindern allein dastand und selbst nichts hatte. Sie müssen mir helfen und ihr auch. Ich flehe Sie an. Sie kann mich nicht hören, auch wenn ich mir noch so viel Mühe gebe.’
    Ich wusste es, ich wusste es einfach. Diese Frau war tot und stand als Geist vor mir, und ich unterhielt mich mit ihr, als gäbe es nichts Natürlicheres auf der Welt.”
    “Vielleicht hast du es ja geträumt”, sagte er. Matt klang ernst, aber er schaute sie wenigstens nicht an, als ob sie den Verstand verloren hätte.
    “Kann sein, aber das war noch nicht alles.” Sie legte eine kleine Pause ein und beobachtete ihn eingehend. “Denn dann war Josh plötzlich wieder da. Es war, als ob er der Frau ins Zimmer gefolgt wäre, als ob er nie weg gewesen wäre. ‘Darcy’, sagte er, ‘bitte, sie braucht deine Hilfe. Geh zu ihrer Enkelin und richte ihr aus, worum sie dich gebeten hat.’“
    “Und du hast Josh versprochen, es zu tun?” fragte Matt nur ein kleines