Das Geheimnis von Mulberry Hall
hast.“
Sie zog die Stirn kraus. „Inwiefern?“
„In jeder Hinsicht.“
Warum rückt er nicht richtig mit der Sprache raus? fragte sie sich entnervt. „Meinst du damit, dass noch keiner so mit dir geredet hat?“
„Ja, damit meine ich, dass noch keiner so mit mir geredet hat“, wiederholte er, und allmählich verunsicherte Lexie diese gestelzte Form der Unterhaltung.
„Oje.“ Was sollte sie sonst dazu sagen?
Jetzt lachte Lucan etwas lauter. Ihre aufrichtige Scham gefiel ihm. „Versuche doch bitte, nicht derart selbstzufrieden auszusehen!“, neckte er sie.
Schnell hatte Lexie sich gefangen und hob provokativ beide Augenbrauen. „Wie denn, wenn ich mich doch genau so fühle?“
Kopfschüttelnd trat er zur Seite, damit sie vor ihm die Küche betreten konnte. „Sagst du eigentlich immer gleich, was du denkst?“
Lexie nickte. „Meistens.“ Nicht immer, das musste sie zugeben. Schon gar nicht in Gegenwart dieses speziellen Mannes! Obwohl es ihr missfiel, sich ständig unter Kontrolle halten zu müssen.
Aber es hatte ihr großen Spaß gemacht, ein wenig mit Lucan zu scherzen und ihn zum Lachen zu bringen. Zumindest für ein paar Minuten konnte sie vergessen, wer sie beide waren und welche Verpflichtungen ihnen anhafteten.
Meine Güte!, erschrak Lexie. Denke ich etwa ernsthaft darüber nach, wie es wäre, eine Beziehung mit ihm zu führen? Mit Lucan St. Claire?
Sie hatte sich ja schon eine Menge Dummheiten in ihrem Leben geleistet, wie zum Beispiel, sich für drei Tage zu Lucans Privatsekretärin zu machen. Sie hatte sich dazu hinreißen lassen, mit ihm herumzuknutschen, zugelassen, dass er ihre Brüste abküsste. Aber nun spielte ihr Temperament ja wohl völlig verrückt!
Abwehrend und wütend starrte sie ihn an. „Ich sage dir auch, was ich jetzt gerade denke. Ich muss sofort raus aus dieser unerträglich muffigen Umgebung und ein bisschen frische Luft schnappen!“
Lucan wirkte leicht verwirrt. „Findest du das Haus muffig oder mich?“
„Diese Antwort kannst du dir selbst geben!“ Mit diesen Worten stürmte Lexie in die Eingangshalle, riss ihren Mantel vom Garderobenhaken und eilte nach draußen.
Sprachlos sah Lucan ihr nach und überlegte für einen Sekundenbruchteil, ob er ihr folgen sollte. Aber nein, er war noch nie einer Frau hinterhergelaufen und würde jetzt nicht damit anfangen. Auch wenn es sich ein Teil von ihm wünschte …
Lexie schlug den schneebedeckten Weg durch den Wald ein, der direkt zum Cottage ihrer Großmutter führte, das fast schon am Rande des Dorfes lag. Dieser Weg war seinerzeit häufig beschritten worden, wenn Alexander St. Claire die Frau besuchte, die er so sehr liebte.
Das niedliche, weiß angestrichene Häuschen sah aus wie immer, als Lexie endlich davorstand. Die Fenster blitzten vor Sauberkeit, ein Teil des Daches war offenbar erneuert worden, und aus dem kleinen Schornstein stieg Rauch auf.
Mit klopfendem Herzen näherte sich Lexie der rot lackierten Holztür und legte sich im Geiste eine gute Entschuldigung zurecht, warum sie Nanna Sian heute mit einer unglaublichen Geschichte überfiel.
Aber auf keinen Fall würde sie ein Wort über das verlieren, was am Vorabend zwischen ihr und Lucan St. Claire passiert war!
„Wo, zur Hölle, bist du gewesen?“, wollte Lucan wissen.
Lexie war in der Tür stehen geblieben, um sich den Schnee aus den Haaren und dem Mantel zu schütteln. Dann ging sie in die Küche, ohne Lucan zu beachten, der ihr wutschnaubend gefolgt war und sich nun an einer Stuhllehne festklammerte.
„Entschuldigung?“, sagte sie freundlich und schloss die Küchentür hinter sich.
Nicht einen Moment lang ließ Lucan sich von ihrer Unschuldsmiene täuschen. „Mir hast du gesagt, du willst einen kleinen Spaziergang unternehmen, und dann bist du auf einmal für mehr als zwei Stunden vom Erdboden verschwunden!“
„Hattest du denn etwas für mich zu erledigen?“, fragte sie mit gespielter Verwunderung.
„Offensichtlich nicht, wenn ich gerade einen Termin mit dem Handwerker habe.“
„Dann verstehe ich das Problem nicht.“
„Das Problem ist, es hat zu schneien begonnen, kurz nachdem du aus dem Haus gerannt bist“, erklärte er widerwillig und zeigte mit ernster Miene in Richtung Fenster.
Beinahe hätte Lexie laut gelacht. „Du hast dir doch nicht etwa Sorgen um mich gemacht, Lucan?“
Doch, das hatte er, und zwar ziemlich große Sorgen, die von Minute zu Minute schlimmer wurden. Es war draußen nicht nur klirrend kalt, der
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