Das Geheimnis von Mulberry Hall
Neuschnee verdeckte auch Lexies Fußspuren, und Lucan fürchtete, sie könne sich verlaufen haben.
„Es geht nicht um übertriebene Ängste, Lexie“, begann er ungeduldig. „Du kennst dich in dieser Gegend nicht aus. Was weiß ich, ob du vielleicht auf dem See durchs Eis brichst und ertrinkst?“
„Jetzt denk doch mal positiv, Lucan! Auf diesem Weg wärst du mich wenigstens los, und ich könnte nicht länger deine Nerven strapazieren.“ Sie schlüpfte aus ihrem Mantel und legte ihn sorgfältig über eine Stuhllehne zum Trocknen.
Bei der Vorstellung, Lexies leblosen Körper aus dem eisigen See ziehen zu müssen, wurde Lucan regelrecht schlecht. Ein Schauer lief über seinen Rücken. „Verdammt, das ist nicht witzig!“, rief er laut.
„Das sollte es auch nicht sein.“ Leider war es so: Lexie musste einfach immer das letzte Wort haben. „Und genau wie du bin ich es nicht gewohnt, mich vor irgendjemandem für mein Handeln rechtfertigen zu müssen. Ich bin ein freier Mensch und tue, was ich will.“
„Nicht in den nächsten zwei Tagen. Solange du für mich arbeitest, bist du mir auch Rechenschaft schuldig!“, widersprach Lucan hitzig.
Plötzlich wurde sie ganz ruhig. „Das glaube ich weniger.“ Das klang wie eine Warnung, die durch das Funkeln in ihren Augen wirkungsvoll unterstrichen wurde.
Anfangs war Lucan auch gar nicht so besorgt gewesen, als es unvermittelt zu schneien begann. Im Gegenteil. Er vermutete, das Wetter würde Lexie eher früher als später wieder ins Haus treiben. Doch aus Minuten wurden Stunden, und irgendwann hatte Lucan sich seine Jacke übergezogen, um Lexie draußen zu suchen.
Aber die Ländereien von Mulberry Hall waren von gigantischem Ausmaß – unmöglich für eine einzelne Person, dort jemanden aufzuspüren. Außerdem konnte er keine Fußspuren ausmachen, die ihm verraten hätten, in welche Richtung Lexie gegangen war. Nach zwanzig Minuten erfolgloser Suche kehrte Lucan zurück in die Küche und wartete und wartete. Seine Stimmung sank in den Keller, und sein ungestümes Temperament – von dem er bis vor Kurzem gar nicht gewusst hatte, dass er es besaß – flammte auf.
„Ich dagegen bin sicher“, entgegnete er energisch.
„Du kannst denken, was du willst, Lucan.“
„Wo warst du während der letzten zwei Stunden?“
Diese Frage konnte sie ihm nicht wahrheitsgemäß beantworten. Sie konnte einfach nicht.
Ihre Großmutter war zwar überrascht, aber auch wahnsinnig glücklich darüber gewesen, ihre Enkeltochter so unerwartet vor der Tür stehen zu sehen. Dabei hatten sie sich erst kürzlich zu Weihnachten bei einer Familienfeier in London getroffen. Weniger erfreut war sie allerdings über den Grund für Lexies Aufenthalt.
Es war kein leichtes Gespräch geworden. Nanna Sian konnte Lexies Plan, als Lucans Sekretärin einzuspringen, um die eigene Neugier zu befriedigen, nicht unterstützen. Und es beunruhigte sie zutiefst, dass sich die ganze Aktion für ihre Enkelin zum Eigentor entwickelte. Sie warnte Lexie eindringlich vor Lucans Reaktion, sollte er jemals die Wahrheit erfahren.
Diese Warnung war eigentlich überflüssig. Lexie wusste längst, dass sie buchstäblich mit dem Feuer spielte, genau aus diesem Grund hatte sie schon in der vergangenen Nacht kaum ein Auge zugetan.
Sie senkte ihren Blick. „Ich sagte doch schon, ich war unterwegs.“
„Unterwegs wohin?“, drängte er weiter, und sein Misstrauen war nicht zu überhören. Er merkte, wie sie ihm auswich.
„Hierhin und dorthin eben.“ Ihre Stimme blieb fröhlich, während sie sich mit zitternden Händen eine Tasse Kaffee einschenkte. „Möchtest du auch welchen?“ Einladend hielt sie die Kanne hoch.
„Nein.“ Diese vage Antwort war ihm definitiv nicht genug. „Ich möchte immer noch wissen, wo du gewesen bist.“
„Um Himmels willen, Lucan! Ich bin kein Kind mehr, sondern eine erwachsene Frau.“ Lautstark stellte sie ihre Tasse ab und drehte sich zu ihm um.
Mit zwei schnellen Schritten stand er vor ihr. „Weder du noch dein Mantel sind sonderlich durchnässt. Und das kann nur bedeuten, dass du irgendwo Unterschlupf gefunden hast.“
„Weißt du was? Du klingst wie ein professioneller Wichtigtuer, der seine Nase in Dinge steckt, die ihn nichts angehen.“
Ein paarmal ballte Lucan seine Hände zu Fäusten, bevor er sich wieder im Griff hatte. „Du bist mit Abstand die widerborstigste, unmöglichste, sturste Frau, die mir jemals über den Weg gelaufen ist.“
„In dem Fall passen
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