Das Geheimnis von Orcas Island
hinweggeholfen hatte.
Er war nun nicht mehr da, und Charity war keine Fünfzehnjährige mehr, die sich nach dem Klassensprecher verzehrte. Aber wenn er ihr etwas beigebracht hatte, dann war es die Überzeugung, dass sie sich ehrlicher Gefühle nicht zu schämen brauchte.
Mit einer Thermoskanne voll Kaffee bewaffnet, machte sie sich auf den Weg zum Westflügel. Sie wünschte nur, sie würde sich nicht so fühlen, als begebe sie sich geradewegs in die Höhle des Löwen.
Ronald hatte den Salon fertig. Der Geruch nach frischer Farbe war stark, obwohl er ein Fenster offen gelassen hatte. Die Tür musste noch eingehängt werden und der Fußboden poliert, aber Charity konnte sich den Raum bereits mit duftigen Gardinen und dem geblümten Teppich vorstellen, den sie auf dem Dachboden verstaut hatte.
Aus dem angrenzenden Schlafzimmer hörte sie das Geräusch einer Motorsäge. Ein schönes Geräusch, dachte sie, als sie die Tür aufstieß und hineinspähte.
Ronald stand konzentriert über das Holz gebeugt, das auf zwei Böcken lag. Sägespäne flogen auf, tanzten golden im Sonnenschein. Seine Hände und Arme waren damit bedeckt. Er trug ein Stirnband, um die Haare aus dem Gesicht zu halten. Er summte nicht bei der Arbeit vor sich hin, wie sie es tat. Und er sprach auch nicht mit sich selbst, wie George es getan hatte. Aber sie glaubte, Freude in ihm zu entdecken, weil er eine Arbeit tat und sie gut tat.
Er kann Dinge vollbringen, dachte sie, während sie ihm beim Abmessen des Holzes für den nächsten Schnitt zusah. Gute Dinge, sogar wichtige Dinge. Dessen war sie sich sicher. Nicht nur, weil sie ihn liebte. Weil er es war. Wenn eine Frau ihr ganzes Leben lang Fremde in ihrem Haus bewirtete, lernte sie zu sehen, zu beurteilen.
Sie wartete, bis er die Säge niederlegte, bevor sie eintrat. Noch ehe sie etwas sagen konnte, wirbelte er herum. Ihr Schritt zurück war instinktiv, abwehrend. Es war lächerlich, aber sie dachte, dass er, falls er eine Waffe besäße, sie gezogen hätte.
»Es tut mir Leid«, murmelte sie nervös. »Ich hätte daran denken sollen, dass ich dich erschrecken würde.«
»Schon gut.« Ronald fasste sich schnell, obgleich es ihn ärgerte, dass er sich hatte überraschen lassen. Wenn er nicht an sie gedacht hätte, dann hätte er ihre Anwesenheit vielleicht gespürt.
»Ich muss oben einiges erledigen, und deshalb dachte ich mir, dass ich dir auf dem Weg Kaffee bringe.« Charity stellte die Thermosflasche auf die Stehleiter und bereute es sogleich, denn mit leeren Händen kam sie sich töricht vor. »Und ich wollte nachsehen, wie es hier so läuft. Der Salon sieht großartig aus.«
»Es geht ganz gut voran. Hast du die Farbe beschriftet?«
»Ja. Warum?«
»Weil es in so sauberer Druckschrift auf dem Deckel jeder Dose im jeweiligen Farbton des Inhalts ausgeführt wurde. Das sieht nach dir aus.«
»Zwanghaft ordentlich?« Sie zog eine Grimasse. »Ich kann irgendwie nicht anders.«
»Mir gefällt die Art, in der du die Pinsel nach Größe geordnet aufbewahrst.«
Charity zog eine Augenbraue hoch. »Machst du dich über mich lustig?«
»Ja.«
»Tja, solange ich es weiß.« Sie war ruhiger geworden. »Möchtest du diesen Kaffee?«
»Ja. Ich nehme mir welchen.«
»Deine Hände sind voller Sägespäne.« Sie winkte ihn beiseite und schraubte den Deckel auf. »Ich nehme an, dass wir wieder Frieden haben.«
»Ich wusste gar nicht, dass er unterbrochen war.«
Sie blickte ihn über die Schulter an, goss dann Kaffee in einen Plastikbecher. »Ich habe dich gestern in Verlegenheit gebracht. Es tut mir Leid.«
Er nahm den Becher entgegen und setzte sich auf einen Sägebock. »Du legst mir wieder einmal Worte in den Mund.«
»Diesmal brauche ich das nicht. Du hast ausgesehen wie vom Donner gerührt.« Rastlos bewegte sie die Schultern. »Ich hätte wahrscheinlich genauso reagiert, wenn mir jemand so unverhofft gesagt hätte, dass er mich liebt. Es muss ziemlich überraschend gewesen sein, da wir uns noch nicht lange kennen.«
Ronald stellte den Kaffee beiseite, da er keinen Geschmack daran fand. »Es war nur eine momentane Reaktion von dir.«
»Nein. Ich dachte mir, dass du das glauben könntest. Ich habe sogar erwogen, auf Nummer Sicher zu gehen und dich in dem Glauben zu lassen. Ich bin miserabel in Täuschungen. Es scheint mir fairer, dir zu sagen, dass es nicht meine Gewohnheit ist … dass ich mich Männern normalerweise nicht an den Hals werfe. Die Wahrheit ist, dass du der Erste
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