Das Geheimnis von Summerstone - Die furchtlosen Vier
ihrer Lage. Sie war nicht nur von allem getrennt, was ihr im Leben lieb war - ihren Eltern, unerschöpflichen Vorräten an Insektenspray, ihrem ganz privaten Kammerjäger -, sie lernte hier auch absolut nichts. Bei ihrer Rückkehr nach London würde sie genauso unter ihrer Angst vor Insekten leiden wie eh und je. Der einzige Unterschied war, dass sie ein paar Tricks in der Tasche hatte, wie man einen schönen Schein erzeugt.
»Hallo, Imkerin! Bitte richte deine Aufmerksamkeit nach vorn.«
»Entschuldigen Sie bitte, Mrs Wellington«, antwortete Madeleine und strich sich die Zähne mit der dicken Schmiere ein.
»Und der Schleier muss hochgeschlagen werden.«
»Ist das unbedingt notwendig?«
»Entweder du schlägst deinen Schleier hoch oder ich beschlagnahme deine sämtlichen Insektenspraydosen, einschließlich derer, die in deinem Gepäck versteckt sind.«
»Aber woher wissen Sie …«
»Schmidty sieht vielleicht schlecht, aber beim Schnüffeln kann er es noch immer mit den Besten aufnehmen.«
Madeleine gab nach und schlug den Schleier nach oben.
»Dieses Zeug schädigt doch nicht unseren Zahnschmelz, oder?«, fragte Theo. »Mein Zahnarzt ist nämlich sehr streng. Ich darf nicht mal Limonade trinken. Er war früher Offizier bei der Armee. Deshalb will ich lieber nicht, dass er wütend auf mich wird.«
»Theo, ich bin sicher, dass sich irgendwo irgendjemand für dein Gefasel über deinen Zahnarzt interessiert - ich bin es jedenfalls nicht«, sagte Mrs Wellington und schob ihm ein Lineal hinten in die Hose. Theos Hose saß schon ein wenig knapp für seinen Geschmack. Das zusätzliche Lineal machte sie unerträglich eng.
»Ich auch nicht«, fügte Lulu mit einer Grimasse
hinzu, während Theo den Versuch unternahm, den Bund seiner Hose zu dehnen.
Mrs Wellington steckte nun auch Lulu, Madeleine und Garrison Lineale hinten in die Kleidung, die aber bei allen viel lockerer saß als bei Theo.
»Man kann nicht ordentlich winken, ohne eine gute Haltung zu haben. Euer Rücken muss stets parallel zu den Linealen bleiben«, sagte Mrs Wellington, während sie ihnen zeigte, wie eine perfekte Haltung sowie ein perfektes Lächeln und Winken aussahen und sie aufforderte, es ihr nachzutun. »Finger zusammen, Rücken gerade, breites Lächeln. Noch einmal! Mehr Vaseline, Madeleine! Schultern zurück, Theo! Finger zusammen! Rücken gerade! Breites Lächeln! Garrison, dieses Winken ist völlig unannehmbar! Noch mal, Sportsfreund!«, kommandierte Mrs Wellington. »Und noch einmal! Mehr Vaseline, Theo! Ich sagte mehr !«
Mrs Wellingtons Stimme wurde immer lauter, ganz im Stil eines Diktators, wie die Kinder noch keinen gesehen hatten.
Als die Quälerei vorbei war, taten ihnen die Armmuskeln weh vom Winken, die Wangen schmerzten vom Lächeln und der Mund klebte vor Vaseline. Es war eine seltsame Art von Folter, aber dennoch sehr schmerzhaft. Selbst der sportliche Garrison spürte die Anstrengung dieser speziellen Übungen. Seinen Armen ging es zwar gut, aber sein Gesicht pochte nur noch dumpf.
Der Unterricht dauerte außergewöhnlich lang, sodass die Schüler das Mittagessen ausfallen lassen und zum Abendessen eilen mussten, ohne sich vorher die Zähne putzen oder die Lineale herausziehen zu können. Als sie erst einmal steif am Esstisch saßen und die Krähen im Hintergrund krächzten, wischten sich die vier ihre fettigen Münder an Mrs Wellingtons makellosem Leinen ab.
»Meint ihr, die Servietten bekommen Flecken davon?«, fragte Theo.
»Wen interessieren die Servietten? Wir sitzen hier mit einer gestörten Schönheitskönigin fest. Ich kann nicht aufhören zu lächeln und so nett bin ich nun auch wieder nicht«, flüsterte Lulu.
»Endlich mal ein Funken Selbsterkenntnis«, sagte Theo herablassend.
»Klappe, Dickmops.«
»Es reicht, Lulu«, fuhr Madeleine dazwischen. »Du bist die Letzte, die Grund zum Klagen hat. Du bist doch sowieso ihr Liebling und die einzige, die sie für hübsch genug hält, um bei einem Schönheitswettbewerb zu gewinnen.«
»Du sagst das so, als wäre es prima, der Liebling einer Irren mit einem Winktick zu sein. Glaub mir, ist es nicht. Und wenn du so gerne einen Schönheitswettbewerb gewinnen willst, warum legst du dann nicht deinen Schleier ab?«
»Madeleine ohne ihren Schleier ist wie Schokolade
ohne Erdnussbutter, Salz ohne Pfeffer, Mayonnaise ohne Senf.«
»Danke, Theo. Mir liegt ziemlich viel an meinem Schleier«, sagte Madeleine und seufzte dann: »Sie hat überhaupt keine Ahnung von
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