Das Geheimnis von Turtle Bay
auf den Kopf zu stellen, vielleicht war Ric aber auch aus eigenem Antrieb bei ihr eingestiegen. So oder so war es nur gerecht, wenn sie sich auf die gleiche Weise revanchierte. Außerdem wohnte Sam nicht mehr über dem Laden, und sie würde allenfalls in sein Geschäft eindringen, nicht aber in seine Wohnung.
Fast ein wenig übermütig schloss sie das Geschäft ab und spazierte wie schon am Tag zuvor am Uferstreifen von Turtle Bay entlang, dieses Mal allerdings ohne Manny im Schlepptau. Und sie näherte sich dem Geschäft auch nicht von vorn, sondern wählte den Weg zwischen dem Gebäude und dem angrenzenden Bootsschuppen, den sie und Ted vor Jahren so oft aufgesucht hatten. Dort befand sich immer noch das Fischadlernest auf seinem hohen Mast, das von den Vögeln vor Jahren aufgegeben worden war, nachdem man den freien Blick aufs Meer verbaut hatte. In einer Kerbe in eben diesem Mast war der Schlüssel zum Dachgeschoss des Hauses versteckt, an den man gelangte, indem man die Außentreppe ein paar Stufen hinaufging.
O ja, Sam hätte wirklich einige Dinge ändern sollen, unter anderem das & Sohn in seinem Firmenschild zu streichen und den Schlüssel nicht auch nach Jahren noch an derselben Stelle aufzubewahren. Und er hätte einsehen sollen, dass Teds eigene Entscheidungen ihn das Leben gekostet hatten, anstatt sich von Hass und Rachegelüsten auffressen zu lassen.
Als sie sich über das Geländer beugte, um nach dem Schlüssel zu greifen, wurde ihr doch etwas mulmig. Konnte sie ohne Daria weiterleben, ohne ihren Mörder zu hassen? Ohne sich an ihm rächen zu wollen?
Und war es richtig, jetzt bei Sam einzubrechen? Aber, wandte eine Stimme in ihrem Kopf ein, sie brach doch gar nicht bei ihm ein. Schließlich hatte sie einen Schlüssel, der auf das Schloss passte. Außerdem musste sie sich hier umsehen.
Beim Öffnen knarrte die Tür, und Bree erstarrte in ihrer Bewegung. Nichts geschah, also hatte sie auch niemand gehört. Vom Speicher bis zum Parterre war es zu weit, als dass Sams Angestelltem etwas hätte auffallen können, falls der überhaupt im Geschäft war. Auf Zehenspitzen schlich sie nach drinnen und schloss die Tür hinter sich. Die Lamellen der Jalousie standen ein wenig offen, sodass schmale Lichtstreifen auf den Boden fielen. Mit jedem Schritt wirbelte sie etwas Staub auf, weshalb Bree einen Finger unter ihre Nase drücken musste, um nicht zu niesen. Wenn Sam die Vergangenheit bewahren wollte, warum machte er dann hier nicht wenigstens mal sauber?
Sie stand sich in Teds früherem Zimmer. Hier hatte er einige Jahre gelebt, nachdem seine Mutter die Familie verlassen hatte. Jetzt war daraus ein kleines Museum geworden, ein vor langer Zeit versiegeltes und seitdem nie wieder geöffnetes Grab. Es erinnerte sie an das Grab des Pharaos Tutanchamun, den man mit so vielen Grabbeigaben für das Leben nach dem Tod beigesetzt hatte. Nur dass hier nichts über Jahrhunderte hinweg unter Wüstensand begraben worden war, sondern der Staub von einigen Jahren erst fingerdick lag.
Ungläubig wanderte ihr Blick über das Bett, den Schreibtisch und den Stuhl, über dem eine Jeans hing, davor die alten, ausgetretenen Sportschuhe. Sie entdeckte seinen Baseballhandschuh, Eintrittskarten für Disney World, einige seiner Lieblings-T-Shirts – ja, sie erinnerte sich noch gut an das T-Shirt der Collier County Fair. Zwei große Poster von Football-Spielern der Miami Dolphins, eines davon mit Autogrammen. Und überall Fotos, Fotos, Fotos, die Sam aufgehängt haben musste.
Als sie genauer hinsah, fiel ihr auf, dass aus all seinen Kinderfotos eine Person ausgeschnitten worden war, zweifellos seine Mutter. Bree hatte sie nie kennengelernt, dennoch hielt sie nicht viel von einer Frau, die ihren Sohn im Stich ließ, auch wenn sie klug genug gewesen war, sich von einem Mann wie Sam Travers zu trennen.
Sie schaute sich weiter um, sah ein paar Pfadfinderabzeichen und Trophäen, die Ted beim Bowling und im Football gewonnen hatte, dann entdeckte sie an einer Pinnwand Fotos, die ihr vertraut vorkamen. Nur dass Sam diesmal Bree aus jedem dieser Fotos ausgeschnitten hatte. Bei dem Anblick wurde ihr flau.
Bree legte die Hände vor den Mund und kratzte sich dabei mit dem Schlüssel an der Wange, den sie noch immer festhielt. War das hier die Antwort auf die Frage, wer Daria getötet hatte? Wollte er Bree leiden lassen, wie er selbst litt, oder hatte er gedacht, er habe sie anstelle von Daria vor sich? Gestern erst hatte er zugegeben, wie
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