Das Geheimnis von Winterset
sehen. Noch schlimmer war allerdings, dass seine Umarmung ihr so guttat... Und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Ruhe, die sie in seinen Armen empfand, sich in etwas gefährlich Beunruhigendes verwandelte.
Es war sehr unbedacht von ihr, sich so leichtfertig in Versuchung zu bringen.
Innerlich seufzte sie über ihren Verzicht, doch dann setzte Anna sich rasch auf und löste sich aus Reeds Umarmung. „Ich denke, dass wir der alten Dienerin noch einen Besuch abstatten sollten."
„Mrs. Parmer?"
„Ja. Mir war schon gestern so, als würde sie uns etwas verschweigen, und nun bin ich mir ganz sicher."
„Das ist eine gute Idee. Ich werde gleich die Pferde bereit machen lassen."
Sie gingen die Galerie hinunter zurück in die Eingangshalle, wo Reed kurz einem Hausdiener Bescheid sagte.
„Bei unseren Besuchen bei Mrs. Parmer - und bei der Haushälterin - ist mir etwas aufgefallen", wandte Anna sich dann wieder an Reed. „Sie leben beide in recht hübschen Häuschen ... nicht besonders groß, aber solide gebaut und sehr komfortabel. Mrs. Parmer hatte sogar eine Dienerin. Finden Sie nicht auch, dass es für ein Dienstmädchen eher ungewöhnlich ist, ihren Lebensabend so behaglich zu verbringen?"
„Soweit ich weiß, hatte Ihr Onkel der Haushälterin eine Rente ausgesetzt. Und Mrs. Parmer war verheiratet.
Wahrscheinlich hat sie eine gute Partie gemacht."
„Vielleicht."
Reed sah Anna aufmerksam an. „Im Prinzip haben Sie recht. Es ist tatsächlich auffällig. Vermuten Sie, dass jemand ... sich das Schweigen der beiden Frauen erkauft hat?"
Anna erwiderte seinen Blick. „Ich zweifle nicht mehr daran, dass auf Winterset etwas Furchtbares geschehen ist.
Mrs. Partner hat uns nicht alles gesagt, was sie weiß."
„Nur warum glauben Sie, dass sie uns nun mehr erzählen wird?", fragte Reed.
„Weil wir sie dazu bringen werden", erwiderte Anna.
Mrs. Parmer schien ein wenig beunruhigt zu sein, Anna und Reed schon wieder vor ihrer Tür stehen zu sehen.
„Mylord. Miss Holcomb." Sie blickte ihren Besuch fragend an. „Was kann ich für Sie tun?"
„Sie könnten uns die Wahrheit sagen", schlug Anna vor.
Mrs. Parmer blinzelte überrascht und trat einen Schritt zurück. Reed und Anna folgten ihr, wenngleich sie nicht hereingebeten worden waren.
„Ich ... ich verstehe nicht ganz, wovon Sie reden", erwiderte die alte Frau und schaute sie misstrauisch an.
„Mrs. Parmer, ich glaube, dass Sie uns gestern nicht alles gesagt haben", meinte Reed nun. „Vielleicht möchten Sie uns ja heute erzählen, was Sie bislang verschwiegen haben."
„Ich weiß immer noch nicht, was Sie meinen", beharrte sie.
„Aber ich weiß jetzt, was sich in dem Zimmer hinter der Galerie ereignet hat", ließ Anna sie wissen und betrachtete das Gesicht der alten Frau bei ihren Worten ganz genau.
Mrs. Parmer riss die Augen auf und fasste sich an den Hals. „Wie konnten Sie ... "
„Susan Emmett ist dort umgebracht worden, nicht wahr?", fragte Anna.
Die Lippen der alten Dienerin zuckten, dennoch brachte sie kein Wort heraus. Ruhelos wanderte ihr Blick zwischen ihren Besuchern hin und her.
„Mrs. Parmer ..." Behutsam griff Reed nach ihrer Hand und sah der alten Frau in die Augen. „Denken Sie nicht, dass es an der Zeit ist, dass jemand die Wahrheit über Susans Tod erfährt? Finden Sie es denn richtig, dass sie ein so schreckliches Ende gefunden hat, das nie gesühnt worden ist?"
Mrs. Parmer wirkte verunsichert. „Sie ist tot und wird nicht mehr lebendig. Welchen Unterschied sollte es noch machen ...?"
„Ich glaube, dass Sie selbst den Unterschied sehr wohl merken würden", bemerkte er mit sanfter Stimme. „Sie könnten Ihre Seele von einer schweren Schuld ... "
„Ich hatte nichts mit ihrem Tod zu tun!", rief Mrs. Parmer und riss sich von Reed los. Sie zögerte einen Augenblick und fügte dann hinzu: „Nun gut, wahrscheinlich kommt es jetzt wirklich nicht mehr darauf an." Sie warf Anna einen kurzen Blick zu. „Und immerhin war er ja Ihr Großvater ... "
Mrs. Parmer drehte sich um und bedeutete ihnen, ihr in die Wohnstube zu folgen. Die Worte der alten Frau hatten Anna aufhorchen lassen, und auf einmal wurde ihr ganz schwindelig zumute. Sie hatte es von dem Moment an geahnt, da sie das Zimmer hinter der Galerie betreten hatte ...
„Es ... war also mein Großvater? Lord de Winter?", fragte Anna beklommen, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen und sich gesetzt hatten.
Wortlos griff Reed nach ihrer Hand.
„Ja",
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