Das Geheimnis von Winterset
erwiderte Mrs. Parmer. „Der alte Lord." Sie presste die Lippen fest zusammen. „Er war kalt und grausam, und ich fand schon immer, dass er Lady de Winter schlecht behandelt hat. Kein Herz hatte er. Und seltsam war er. Aber was sollte ich machen ... " Sie zuckte mit den Schultern. „Außerdem war er einer vom Adel, und die sind ja oft ein wenig seltsam."
„Was genau ist in dem Zimmer geschehen?", fragte Reed.
„Das kann ich Ihnen nicht sagen", erwiderte Mrs. Parmer. „Ich war nicht dabei, als es geschah. Erst danach ... Die Haushälterin hat mich mitten in der Nacht geweckt und mit sich nach unten geschleppt ... in dieses Zimmer." Selbst nach dieser langen Zeit ließ die Erinnerung daran die alte Frau erblassen. „Alles war voller Blut. Es war furchtbar.
Mrs. Hartwell hat mir aufgetragen, sauber zu machen und meinen Mund zu halten - und das habe ich getan. Ich habe das ganze Blut weggeschrubbt, und dann haben wir zusammen den Teppich auf den Dachboden geschafft...
den hätte man nie mehr sauber bekommen. Mrs. Hartwell hat gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen muss, solange ich nicht darüber rede. Ich habe Geld bekommen und nach ein paar Jahren meine Stellung aufgegeben und geheiratet. Von dem Geld haben mein Mann und ich
uns das Haus hier gebaut."
Sie hob ihr Kinn und sah Anna herausfordernd an. „Sie denken nun sicher schlecht von mir, Miss, weil ich das Geld genommen und geschwiegen habe. Aber ich wollte diesem Leben entkommen - immer nur Befehle anzunehmen und anderen Leuten hinterherzuräumen -, und als sie mir das Geld angeboten haben, wusste ich, dass ich eine solche Gelegenheit nie wieder bekommen würde. Und wer hätte mir denn geglaubt, wenn ich die Wahrheit erzählt hätte? Der Lord und die Lady würden geschworen haben, dass es nicht stimmt, und Mrs. Hartwell wahrscheinlich auch, und dann wäre ich ohne ein Zeugnis hinausgeworfen worden!"
„Sie befanden sich in einer schwierigen Situation", versicherte Reed ihr mitfühlend.
Anna stöhnte leise und fasste sich an die Stirn. „Er war verrückt, nicht wahr?"
Mrs. Parmer nickte. „Es tut mir aufrichtig leid, Miss. Er war nicht ganz richtig im Kopf. Und es wurde immer schlimmer mit ihm."
„Bloß woher wussten Sie denn, dass es Lord de Winter gewesen war, der Susan umgebracht hatte?", wollte Reed wissen.
„Wer sollte es sonst gewesen sein?", entgegnete Mrs. Parmer. „Wäre es einer von uns Dienstboten gewesen, würden die Herrschaften sich nicht so viel Mühe gemacht haben, alles zu vertuschen. Und als dann auch noch Will Dawson ermordet wurde, hat Ihre Ladyschaft Lord Roger wegschließen lassen - in die Räume der Kinder, weil da die Fenster vergittert sind. Sie haben eine massive Tür einbauen lassen, die immer verschlossen war. Nur Mrs. Hartwell hatte den Schlüssel. Mylord konnte sich dort oben austoben, und sein Kammerdiener hat sich weiterhin um ihn gekümmert."
„Also wussten alle im Haus, dass er verrückt war?", fragte Anna ein wenig ungläubig.
„Oh nein, Miss, die anderen Dienstboten haben nichts davon erfahren. Sie haben ihn auch nur dann zu Gesicht bekommen, wenn er mit seinem Kammerdiener oder Ihrer Ladyschaft in der Galerie spazieren ging. Es hieß, dass er krank und sehr geschwächt sei. Natürlich war niemandem im Haus entgangen, wie seltsam er schon immer gewesen war, und es gab viel Gerede. Aber Ihre Ladyschaft war eine ganz reizende Frau, die immer freundlich zu uns allen war. Außerdem wurden wir noch so gut bezahlt, dass jeder sich gerne bemühte, das Geheimnis nicht nach draußen dringen zu lassen. Der Doktor wusste natürlich Bescheid. Er kam regelmäßig vorbei, um nach Seiner Lordschaft zu sehen ... um ihn zu behandeln, wenn er sich wieder einmal verletzt hatte oder um ihm etwas zur Beruhigung zu geben. Nun ja, Sie wissen schon ... "
Anna musste an die fehlenden Seiten im Tagebuch des alten Dr. Felton denken. Hatte er sich dort alles über die Besuche bei dem verrückten Lord de Winter notiert?
„Wahrscheinlich wusste auch der Anwalt der de Winters Bescheid, aber der ist schon vor Jahren gestorben. Oh ... und Perkins natürlich. Er kam regelmäßig vorbei und ist dem Kammerdiener manchmal zur Hand gegangen, wenn der alte Lord mal wieder kaum zu bändigen war."
„Wie war Lord de Winter?", erkundigte Anna sich.
Mrs. Parmer zuckte ein wenig ratlos die Schultern. „Er hat eigentlich nie mit mir gesprochen. Wenn ich seine Zimmer sauber machte, nahm ihn sein Kammerdiener immer auf einen Spaziergang in
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