Das Geheimnis von Winterset
„Ich glaube, dass er früher in London gelebt hat, denn er spricht oft und gerne von der City. ,Als ich in der City lebte Kit ahmte Mr. Barbushs etwas gespreizte Art zu sprechen nach. „Außerdem erinnere ich mich, dass er einmal erwähnt hat, einer seiner Cousins sei ein Baron. Viel mehr weiß ich nicht, da ich Mr. Barbush eigentlich nur bei Dr. Feltons Kartenrunde sehe." Urplötzlich hielt er inne und runzelte die Stirn. „Es kann genauso gut einer von den Dienstboten gewesen sein."
„Natürlich können wir auch das nicht ausschließen", stimmte Reed zu. „Wer hat Sie denn bedient?"
„Ein Hausmädchen brachte uns das Essen", sagte Kit. „Ich kann mich aber nicht mehr an sie erinnern. Die Getränke hat uns der Doktor selbst eingeschenkt - was noch lange nicht heißt, dass er etwas hineingetan hätte.
Und", fügte er mit einem Seitenblick auf Reed und Anna hinzu, „wir wissen ja nicht einmal mit Sicherheit, dass ich das Mittel in seinem Haus verabreicht bekommen habe. Vielleicht brauchte es sehr lange, um zu wirken. Oder ich war wirklich einfach nur so müde, dass ich nicht bemerkt habe, wie sich jemand in der Dunkelheit an mich herangeschlichen hat."
„Das stimmt allerdings - wir wissen es nicht. Außer dem Doktor gibt es zweifellos noch andere Leute, die einen wirksamen Schlaftrunk zubereiten können." Reed blickte Anna vielsagend an, und sie wusste, dass er an Nick Perkins dachte, der wirklich für jeden Zweck das geeignete Mittel wusste. Nur dass er hinter diesen furchtbaren Verbrechen stecken sollte, mochte sie sich noch weniger vorstellen, als sie es bei Dr. Felton konnte.
„Es ist sicher jemand anders", sagte sie halb zu sich selbst.
„Ich denke, wir sollten uns einmal die anderen Männer anschauen", pflichtete Reed ihr bei. „Ich werde meinen Anwalt in London bitten, etwas über diesen Mr. Barbush in Erfahrung zu bringen. Wenn er wirklich früher in London gelebt hat, lässt sich sicher etwas über seine Vergangenheit herausfinden. Und ich werde mich auch noch einmal mit dem Wachtmeister unterhalten."
Sie plauderten noch ein wenig, bevor Reed schließlich aufbrach. Während des Essens herrschte eine beklemmende Stille zwischen Anna und Kit, da sie beide in Gedanken bei der Unterhaltung waren, die sie gerade geführt hatten.
In Gegenwart der Dienstboten wollte aber keiner von ihnen darüber reden.
Nach dem Essen sprach Kit mit dem Butler, damit zwei Hausdiener nachts Wache hielten, und bot sich selbst an, die erste Schicht zu übernehmen. Anna zog sich früh auf ihr Zimmer zurück. Sie versuchte zunächst, einige Näharbeiten zu erledigen und dann ein paar Seiten zu lesen. Dummerweise war sie einfach zu unkonzentriert, und ihre Gedanken schweiften die ganze Zeit zu den Morden ab und kreisten beständig um die immer gleichen Fragen.
Schließlich gab sie es auf, sich mit einer Beschäftigung abzulenken, und ging zu Bett.
Vorher spähte sie aber noch einmal durch einen Spalt zwischen den Vorhängen hinaus in den Garten. Von dem unheimlichen Besucher, den sie letzte Nacht dort beobachtet hatte, war heute nichts zu sehen. Nahe beim Haus entdeckte sie hingegen einen Mann, der eine Pfeife rauchend vor der Hintertür auf und ab ging. Sie vermutete, dass es sich wohl um einen von Reeds Dienern handelte.
Immer wieder ermahnte sie sich, dass sie nun alles nur Mögliche für ihre Sicherheit getan hatten, aber es half wenig, um sie zu beruhigen. Nachdem sie zu Bett gegangen war, dauerte es lange, bis sie endlich in einen von Träumen geplagten Schlaf fiel. Zweimal wachte sie in der Nacht auf. Das erste Mal fuhr sie mit heftig klopfendem Herzen auf und erinnerte sich noch schwach daran, von einer bedrohlichen, gesichtslosen Gestalt gejagt worden zu sein. Ein weiteres Mal erwachte sie mit Reeds Namen auf ihren Lippen und spürte die Lust warm und schwer in ihrem Schoß.
Sie stöhnte leise und drehte sich zur Seite. Wenn nur dieses unsinnige Verlangen aufhören würde! Würde ihr ganzes Leben nun so sein - würde sie sich immer nach dem sehnen, was sie nicht haben konnte? Bevor Reed zurückgekehrt war, hatte sie besser damit umgehen können. Sie hatte sich mit ihrem Leben abgefunden gehabt, war zufrieden gewesen und hatte geglaubt, dass sie Liebesleid und vergebliches Begehren weit hinter sich gelassen hatte. Und jetzt wurde sie jeden Tag erneut daran erinnert, wie viel sie damals aufgegeben hatte und wie sehr sie sich immer noch nach Reed sehnte.
Auf keinen Fall wollte sie hingegen, dass Reed nun
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